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Mein Erfahrungsbericht: Kalter Entzug Venlafaxin

Verfasst: 16.07.2016 09:14
von Maurice
Hallo an alle,

ich habe hier, bevor ich mich entschieden habe, mein Antidepressivum abzusetzen, wertvolle Infos und Denkanstöße bekommen. Dafür vielen Dank. Nun möchte ich andere an meinen Erfahrungen teilhaben lassen. Mir ist bewusst, dass meine Vorgehensweise nicht der im Forum allgemein empfohlenen entspricht. Möglicherweise kann mein Bericht gerade deshalb anderen helfen, ihre Entscheidungen überlegt zu treffen. Er ist in keinem Fall als Handlungsanweisung zu verstehen und entspricht nur meiner persönlichen Erfahrung.

Zu meinem Hintergrund: Ich habe von 2011-2016 Venlafaxin in unterschiedlichen Dosierungen wegen rezidivierender depressiver Episoden eingenommen, immer in retardierter Form. Die längste Zeit, auch direkt vor dem Absetzen, habe ich 225mg täglich eingenommen. Zwischendurch habe ich ca. zwei bis drei mal versucht, die Dosis zu reduzieren (z.B. von 225mg auf 175mg). Wegen unangenehmer Entzugserscheinungen und Stimmungsschwankungen ließ ich das jeweils nach spätestens vier bis fünf Tagen sein und kehrte zur Ursprungsdosis zurück. Spezifische Nebenwirkungen konnte ich nicht sicher feststellen, ein vermehrter Haarausfall und Schweißausbrüche traten in der Zeit der Einnahme jedoch auf (haben sich seit dem Absetzen aber auch nicht verändert). Eine sichere Wirksamkeit hatte das Medikament andererseits bei mir auch nicht, zumindest kam es auch in der Zeit der Einnahme intermittierend zu depressiven Episoden.

Vor einem Monat setzte ich Venlafaxin von einem Tag auf den anderen ab. Zuvor wurde der Wunsch, zu sehen, wie es mir ohne Venlafaxin ginge, immer größer. Ein schrittweises Absetzen hätte je nach Methode mindestens Wochen, eher Monate bis möglicherweise Jahre gedauert. Meine Lebensumstände haben es mir glücklicherweise erlaubt, mich erstmal ohne weitere Verpflichtungen auf mein Wohlergehen zu konzentrieren. Das ist ein Privileg, das sicher nicht viele haben und ohne das ich mich nicht in die Ungewissheit eines kalten Entzugs gestürzt hätte. Mit kaltem Entzug meine ich hier, dass ich das Venlafaxin zum einen abrupt ohne Dosisreduktion und zum anderen ohne Begleitmedikation wie Benzodiazepine o.a. von einem Tag auf den anderen abgesetzt habe.

In der ersten Woche traten die üblichen, mir bekannten Entzugserscheinungen auf, nur in verstärkter Form: Elektroblitze im Kopf, Wahrnehmungsstörungen im Sinne von Synästhesien (ich habe meine Augenbewegungen hören können), Kribbeln in den Extremitäten, starke Erschöpfung, Gereiztheit, Müdigkeit, Schwummerigkeit, Heulattacken. Ich habe versucht, so viel wie möglich wegzuschlafen und bin teilweise auf über 15 Stunden am Tag gekommen. Ein paar mal hatte ich auch mittelschwere Kopfschmerzen, die nach einigen Stunden verschwanden. Ich empfand die elektroschockartigen Blitze bei kleinsten Kopf- oder Augenbewegungen am belastendsten. In der zweiten Woche verstärkten sich diese noch und traten auch auf, wenn ich regungslos im Bett lag. Zudem bemerkte ich eine zunehmende emotionale Labilität: kaum eine Nachricht, die mich nicht (fast) zum Weinen brachte. Geschichten oder Kommentare anderer, die mich vorher kalt ließen, gingen mir plötzlich an die Substanz. Für meine Mitmenschen am belastendsten war wohl meine starke Gereiztheit. In der zweiten Woche traute ich mich vorsichtig nach draußen, empfand das normale städtische Treiben aber als sehr belastend, zu hektisch, zu anstrengend. In der dritten Woche besserten sich viele der Symptome. Die Elektroblitze traten zwar immer wieder auf, besonders außerhalb der Wohnung. Dafür legte sich langsam die Gereiztheit, ich war weniger erschöpft und müde und emotional nicht mehr ganz so leicht aus der Fassung zu bringen. In der vierten Woche normalisierten sich die restlichen Symptome. Hin und wieder überraschte mich noch ein Elektroblitz. Jetzt bin ich am Ende der fünften Woche angelangt. Meine emotionale Reagibilität ist immer noch höher als vor dem Absetzen, was ich aber nicht mehr als so belastend empfinde, auch habe ich keine unvorhersehbaren Weinkrämpfe mehr. Seit ca. zwölf Tagen hatte ich keine Elektroblitze mehr, ich fühle mich leistungsfähig und im Großen und Ganzen unbeeinträchtigt. Was mich am meisten überrascht (und gefreut) hat, ist, dass es bisher zu keinem Stimmungseinbruch oder gar einem depressiven Rezidiv gekommen ist.

Nach fünf Wochen ist es wohl noch zu früh für ein endgültiges Fazit. Mein Eindruck ist aber, dass ich insgesamt recht glimpflich davon gekommen bin, die ersten beiden Wochen jedoch sehr anstrengend und belastend waren und ich sicher keiner Beschäftigung oder anderen Verpflichtungen hätte nachgehen können. Sollten unerwarteterweise wieder Symptome auftreten (oder aber - worauf ich insgeheim hoffe - sich der Haarausfall und die Schweißneigung doch noch bessern), werde ich hier ein Update liefern.

Re: Mein Erfahrungsbericht: Kalter Entzug Venlafaxin

Verfasst: 16.07.2016 09:55
von Murmeline
Moin Maurice,

Danke für deinen Erfahrungsbericht! Es ist sicher erleichternd für dich, dass die Symptome nachlassen und ich wünsche dir, dass es sich so weiter entwickelt.

Ja, so einen Kaltentzug empfiehlt in Betroffenengruppen niemand, da hast du recht. Das hat damit zu tun, dass weltweit die Berichte von langwierigen Symptomkomplexen vorrangig nach abruptem oder kurzfristigen Absetzen auftreten. Im Sinne eines risikovermindernden bzw. schadensbegrenzenden Absetzen ist ein Ausschleichen zu befürworten.

Niemand weiß vorher, ob er dieses Vorgehen des Kaltentzug verträgt und wenn nicht, kann es zu einem derart destabilisierten Zustand kommen, der auch medikamentös nicht wirklich behandelbar ist. Dr. David Healy schreibt zum Beispiel, dass kein Gegenmittel bekannt ist, falls es einen trifft.

Diejenigen, die im protrahierten Entzug stecken, haben sich das nicht ausgesucht und leiden sehr. Schwerwiegende, anhaltende Entzugssyndrome, die von der Mehrheit der medizinischen Praktiker auch nicht als solche anerkannt werden, sind ein Zustand, den man in Worten kaum fassen und beschreiben kann und man ist völlig alleine damit. Das ist Horror.

Alles Gute für dich und mach gerne noch ein Update.

Grüße, Murmeline

Re: Mein Erfahrungsbericht: Kalter Entzug Venlafaxin

Verfasst: 16.07.2016 10:01
von Annanas
Hallo Maurice, herzlich willkommen im ADFD :) ,
danke für deinen Beitrag!

Du hattest ja schon geschrieben, daß deine Vorgehensweise nicht der entspricht, die wir empfehlen.
Unseren Erfahrungen nach, ist ein Kaltentzug möglichst zu vermeiden, es sei denn, es sprechen
Gründe dafür, z.B. erhöhte Leberwerte oder andere gesundheitliche Beeinträchtigungen, aufgrund derer
ein Arzt ein sofortiges Absetzen nahelegt.

Leider ist es so, daß sich die Absetzsymptomatik auch erst zeitverzögert zeigen kann, dh. unter Umständen,
Wochen bis Monate später.

Da wir alle Individuen sind und daher auch unterschiedlich auf Medikamente bzw deren Absetzen reagieren,
ist es auch möglich, daß du "unbeschadet" aus diesem Entzug hervorgehen kannst.
Ich hoffe es für dich u. wünsche dir das sehr.

Ich will jetzt keine Angst verbreiten, vllt hast du es auch schon gelesen - es ist möglich, daß man vor allem
bei einem Kaltentzug, in den sogenannten protrahierten Entzug geraten kann, der sich möglicherweise
mit gravierender Absetzsymptomatik über Monate u. Jahre hinziehen kann.

Da man vorher nie weiß, zu welcher Personengruppe man gehört - raten wir immer zu einem
langsamen, kleinschrittigen Absetzen, um Absetzsymptome moderat zu halten und alltagskompatibel zu bleiben.

Sollten sich Absetzsymptome zeigen, warte nicht zu lange und versuche bitte nicht, das "auszusitzen".
Wenn du es möchtest, unterstützen wir dich dann gerne im Verlauf des evtl Wiedereindosierens u.
folgenden Absetzens.

Viel Glück u. liebe Grüße von Anna

PS: überschnitten mit Murmeline :)

Re: Mein Erfahrungsbericht: Kalter Entzug Venlafaxin

Verfasst: 04.12.2016 10:06
von Sabine S
Hallo Annanas !
Ich habe gerade Deine Antwort gelesen über den kalten Entzug von Venlafaxin. Da verstehe ich eins nicht. Wenn man es geschafft hat, und erst Monate später sollten sich Symtome zeigen, da empfehlst Du wieder mit Medikamenten anzufangen. Da würde doch das ganze Spiel von vorne losgehen. Du meinst das man das nicht aussitzen soll. Tut mir leid, aber dass ergibt doch keinen Sinn. Dann beginnt alles wieder von vorne. Oder verstehe ich da was falsch ?
LG Sabine S

Re: Mein Erfahrungsbericht: Kalter Entzug Venlafaxin

Verfasst: 04.12.2016 10:39
von Jamie
Hallo Sabine,

ich bin nicht Annanas :), aber ich erlaube mir mal zu antworten.

Kalt absetzen oder zu schnelles Absetzen birgt die Gefahr, dass man in ein lang andauerndes Entzugssyndrom rutscht. Das nennen wir prolongierter Entzug. Ist das erst einmal eingetreten, dann kann man zumeist nicht mehr viel machen außer aushalten; und wenn es schlecht läuft, dann sprechen wir hier von Jahren des Leidens.

Die einzige Möglichkeit das abzufangen ist der Versuch einer Wiedereinnahme einer Mini-Dosis um zu schauen, ob das Gehirn / ZNS noch darauf reagiert und sich Symptome bessern.
Dieser Wiedereindosierversuch ist in der Regel bis ca. 6 Wochen nach 0mg oft noch erfolgreich; danach steigen unserer Erfahrung nach die Unverträglichkeiten an.
Dennoch kann es auch einige Monate nach Null, wenn es einem richtig dreckig geht, noch einmal eine Möglichkeit sein es auszuprobieren. Man hat ja nichts zu verlieren.

Also es ist Ansichtssache, ob "danach alles wieder von vorne losgeht". Denn die Alternative lautet, dass man einfach nichts mehr tun kann und die Zeit für sich arbeiten lassen muss.
Es "aussitzen" zu wollen klappt manchmal. Da verschwinden die Symptome dann nach ein paar Wochen oder Monaten. Aber oft genug verschwinden sie eben nicht und dann leidet man Jahre! Vor diesem Schicksal wollen wir nach Möglichkeit jeden bewahren.
Da man nicht weiß, ob die Symptome ein paar Wochen oder Monate gehen oder schlimmstenfalls Jahre, raten wir im Zweifel zu einem Wiedereinnahmeversuch.

Dieser Wiedereinnahmeversuch hat auch nichts mit "Therapie" zu tun, sondern dient einzig und alleine dem Ziel, Menschen vor jahrelangem Leiden zu bewahren. Ziel ist dann die Stabilisierung auf einer recht niedrigen Dosis und dann erneut abdosieren; dieses Mal aber richtig - sprich langsam, schonend, mit viel Zeit und sehr kleinen Schritten.
Nur dann hat das Gehirn die Chance sich parallel zum Absetzen mit-umzubauen und sich an das verminderte Wirkstoffangebot anzupassen. Und dann halten sich in der Regel auch die Absetzsymptome in Grenzen.

Grüße
Jamie