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Artikel New Yorker: Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Verfasst: 15.04.2019 21:46
von FineFinchen
Guten Abend :)

Ich bin fertig mit der Übersetzung! :D Das war ja eine lange Geschichte und so ergreifend.


Da der Text zu groß für einen Beitrag ist, splitte ich ihn.

Liebe Grüße
Finchen


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Übersetzung von https://www.newyorker.com/magazine/2019 ... tric-drugs

American Chronicles

Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Millionen von Amerikanern nehmen seit vielen Jahren Antidepressiva. Was passiert, wenn es Zeit ist, damit aufzuhören?
Von Rachel Aviv


Von Rachel Aviv

1. April 2019
Laura Delano wusste, dass sie "in allem exzellent war, aber es bedeutete ihr nichts", schrieb ihr Arzt. Sie wuchs in Greenwich, Connecticut, einer der reichsten Gemeinden des Landes, auf. Ihr Vater ist mit Franklin Delano Roosevelt verwandt, ihre Mutter wurde der Gesellschaft anlässlich eines Debütantenballs im Waldorf-Astoria. In der achten Klasse, 1996, war Laura Klassensprecherin und gehörte zu den besten Squash-Spielern des Landes. Sie war eine dieser verhältnismäßigen seltenen Jugendlichen mit einem pulsierenden sozialen Leben. Aber sie zweifelte, ob sie ein "wahres Selbst" hatte.

Als älteste von drei Schwestern fühlte sich Laura, als würde sie zwei getrennte Leben führen, eines auf der Bühne und das andere im Publikum. Als würde sie auf eine anstrengende Darbietung reagieren. Sie schnauzte ihre Mutter an, schloss sich in ihrem Zimmer ein und sprach darüber, dass sie sterben wolle. Sie hatte Freunde in der Schule, die sich mit Rasiermessern schnitten und sie war fasziniert von dem, was ein Akt des Widerstands zu sein schien. Sie hat es auch versucht. "Der Schmerz fühlte sich so echt und rau an und nach mir", sagte sie.

Ihre Eltern brachten sie zu einem Therapeuten, der sie nach einigen Monaten an einen Psychiater überwies. Laura erhielt die Diagnose einer bipolaren Erkrankung und bekam Depakote (Valproinsäure), einen Stimmungsstabilisator, der im Vorjahr zur Behandlung bipolarer Patienten zugelassen wurde. Sie versteckte die Pillen in einem Schmuckkästchen in ihrem Schrank und warf sie dann später in die Toilette.

Sie hoffte, dass sie eine authentischere Version von sich selbst in Harvard entdecken würde. Dort fing sie 2001 als Studienanfängerin an. Ihre Mitbewohnerin, Bree Tse, sagte: "Laura hat mich einfach umgehauen - sie war dieses „goldene Mädchen“, so dynamisch und aufmerksam und im Einklang mit den Menschen." An ihrem ersten Tag in Harvard wanderte Laura über den Campus und dachte: „Das ist alles, wofür ich gearbeitet habe. Ich bin endlich da.“

Sie probierte neue Seiten ihrer Identität aus. Manchmal gab sie sich als "lustiges, bodenständiges Mädchen", das bis in den frühen Morgen hinein mit Jungen trank, die ihre emotionale Kälte wahrnahmen. Andere Male war sie eine postmoderne Nihilistin, die die Beliebigkeit der Sprache zerlegte. "Ich erinnere mich, dass ich mit ihr viel über Oberflächlichkeiten gesprochen habe", sagte, Patrick Bensen ein Klassenkamerad. "Das war ein immer wiederkehrendes Thema: ob die Oberfläche der Menschen jemals mit dem harmonieren kann, was in ihrem Geist ist."

Während der Semesterferien im Winter verbrachte sie eine Woche in Manhattan und bereitete sich auf zwei Debütantenbälle vor, im Waldorf-Astoria und im Plaza Hotel. Sie ging in einen Brautladen und wählte ein bodenlanges trägerloses weißes Kleid und weiße Satinhandschuhe, die über ihre Ellbogen ragten. Ihre Schwester Nina erinnert sich, wie sie selbst auf dem Waldorfball dachte: „Laura ist ein Teil von alledem."

Doch auf den Bildern vor dem zweiten Ball ist Laura leicht nach vorne gebeugt, als ob sie versuche, die Breite ihrer muskulösen Schultern zu verkleinern. Sie trägt eine dünne Perlenkette und ihr blondes Haar ist in einem kunstvollen Knoten geflochten. Ihr Lächeln ist gedrückt und pflichtbewusst. In dieser Nacht, bevor sie auf die Bühne ging, nahm Laura Kokain und Champagner zu sich. Am Ende der Party schluchzte sie so heftig, dass die Begleitung, die sie zum Ball eingeladen hatte, sie in ein Taxi setzen musste. Am nächsten Morgen sagte sie ihrer Familie, dass sie nicht mehr am Leben sein wolle. Laura nahm die Symbolhaftigkeit der Feiern wörtlich, die ihren Eintritt ins Erwachsenenalter markieren sollte. "Ich wusste nicht, wer ich bin", sagte sie. "Ich war im Leben eines Fremden gefangen."

Bevor Laura nach Harvard zurückkehrte, überwies sie ihr Arzt in Greenwich an einen Psychiater im McLean Hospital in Belmont, Massachusetts. Als eines der ältesten Krankenhäuser in Neuengland hat McLean eine Reihe von prominenten Patienten behandelt, darunter Anne Sexton, Robert Lowell, James Taylor und Sylvia Plath, die die Klinik als "die beste Nervenklinik der USA" bezeichneten. Lauras Psychiater hatte einen Abschluss der Ivy League, und sie war dankbar, seine Aufmerksamkeit zu haben. In seinen Notizen bezeichnete er sie als "engagierte, aufgeschlossene und intelligente junge Frau", die "mit hohen Erwartungen an die soziale Anpassungsfähigkeit aufgewachsen ist". Sie sagte ihm: "Ich liege stundenlang in meinem Bett und starre auf die Wand und wünsche mir so sehr, dass ich "normal" sein könnte.”

Der Psychiater bestätigte ihre frühe Diagnose und meinte, dass sie bipolar II wäre, eine weniger schwere Form der Erkrankung. Laura war erleichtert, als sie hörte, wie der Arzt sagte, dass ihre Notlage auf eine Krankheit zurückzuführen sei. "Es war, als würde man sagen: Es ist nicht deine Schuld. Du bist nicht faul. Du bist nicht unverantwortlich." Nach dem Arzttermin, fühlte sie sich glücklich. "Der Psychiater sagte mir, wer ich bin und zwar auf eine Weise, die sich konkreter anfühlte, als ich es mir je vorgestellt hatte", sagte sie. "Es war, als ob er meine Gedanken lesen könnte, als ob ich ihm nichts erklären müsste, weil er bereits wusste, was ich sagen würde. Ich hatte eine bipolare Störung. Ich hatte sie die ganze Zeit gehabt." Sie rief ihren Vater an und weinte. "Ich habe gute Nachrichten", sagte sie. "Er hat das Problem gefunden."

Sie begann, zwanzig Milligramm des Antidepressivums Prozac (Fluoxetin), einzunehmen. Als es ihr jedoch nicht besser ging, wurde ihre Dosis auf vierzig Milligramm und dann auf sechzig erhöht. Mit jeder gesteigerten Dosis fühlte sie Dankbarkeit, dass man sie wahrnahm. "Es war ein Weg für mich, der Welt etwas zu zeigen: Ich habe so viel Schmerz", sagte sie. Laura war sich nicht sicher, ob Prozac (Fluoxetin) ihre Stimmung verbesserte - etwa ein Drittel der Patienten, die das Antidepressiva nahmen, sprechen nicht darauf an - aber ihre Emotionen fühlten sich weniger heftig und störend an und ihre Unterrichtsarbeit verbesserte sich. "Ich erinnere mich, dass sie ständig diesen Medikamentenbehälter für alle Tage der Woche herumtrug", sagte ein Freund von der High School. "Er war Teil dieser mysteriösen Welt ihres psychischen Zustandes."

Auf Partys flirtete sie heftig, hatte aber große Hemmungen mit einem Partner ins Bett zu gehen. "Ich wurde irgendwie von dieser Einsicht überrollt, dass ich körperlich abgekoppelt war. Und dann würde ich mich ausgenutzt fühlen und ich würde irgendwie ausflippen und anfangen zu weinen, und der Kerl würde etwas sagen wie: "Was zum Teufel ist los?"

Die meisten Antidepressiva mindern die Sexualität - bis zu siebzig Prozent der Patienten, berichten über diese Reaktion - aber Laura schämte sich, mit ihrem Psychiater über dieses Problem zu sprechen. "Ich nahm an, dass er Sexualität als Luxus betrachten würde", sagte sie. "Er wäre, als ob er sagen könnte: Wie, wirklich? Du hast diese schwere Krankheit und machst dir deswegen Sorgen? ”

Während ihres ersten Studienjahres erhöhte ihre Ärzte Prozac (Fluoxetin) auf 80 mg, die Höchstdosis. Prozac (Fluoxetin) machte sie schläfrig, also verschrieb man 200 mg Provigil (Modafinil), ein Medikament gegen Narkolepsie, das oft von Soldaten und Lastwagenfahrern genommen wird, um während der Nachtschichten wach zu bleiben. Die Provigil (Modafinil) gab ihr so viel Energie, dass sie über sich selbst sagte: "Ich war nur eine Maschine." Sie war im Squash-Team der Uni und spielte das beste Squash ihres Lebens. Sie war so wachsam, dass sie sich fühlte, als könnte sie die Menschen "lesen", die Details ihrer Identität entschlüsseln: Sie stellte sich vor, dass sie in deren Kindheit blicken und sehen könnte, wie ihre Eltern sie aufgezogen hatten.

Die Provigil (Modafinil) erschwerte Laura das Schlafen, so dass ihr Arzt Ambien (Zolpidem) verschrieb, das sie jede Nacht nahm. Im Laufe eines Jahres hatten ihre Ärzte eine so genannte "Verschreibungskaskade" geschaffen: Die Nebenwirkungen eines Medikaments werden als Symptome einer anderen Erkrankung diagnostiziert, was zu einer Reihe von Neuverschreibungen führt. Lauras Energieniveau stieg und fiel so schnell, dass ihr gesagt wurde, sie habe eine Ausprägung der bipolaren Störung namens "rapid cycling", ein Begriff der Menschen beschreibt, die vier oder mehr manische Episoden in einem Jahr haben, aber auch auf Menschen angewendet wird, die extrem zwischen verschiedenen Stimmungen schwanken. Einmal dachte Laura, dass Frauen, die glücklich sind und Kontakte pflegen, gerne Kleider kaufen. Sie ging also zu Nordstrom (einem Shop) und kaufte zwei oder drei Kleider. Sie erkannte, dass dieses Verhalten "Lehrbuchcharakter" hatte. Sie hatte sich ihr eigenes Exemplar des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders gekauft -, aber das Wissen um dieses Verhalten verhinderte ihre Einkäufe nicht.

Laura empfand den Druck ihres Studiums als lähmend, so dass sie nicht zum Beginn des Frühjahrssemester zurückkehrte. In diesem Sommer führte sie ein Tagebuch, in dem sie ihre persönlichen Ziele festhielt: " Dieses übersteigernde Analysieren muss aufhören"; "hört auf, mich zur perfekten Person für meine Umgebung zu formen"; "finde Vertrauen in etwas, in alles." Aber die Idee, nach dem Herbst nach Harvard zurückzukehren, machte sie so verzweifelt, dass sie jeden Tag an ihr Sterben dachte.

Sie nahm das Semester frei und auf ihren Wunsch hin fuhren sie ihre Eltern in ein Krankenhaus in Westchester County, New York. Eine Psychiaterin dort schrieb, dass sie "die Unfähigkeit hat, akademisch zu funktionieren". Im Krankenhaus, wo sie zwei Wochen lang blieb, wurde sie auf eine neue Kombination von Medikamenten eingestellt: Lamictal (Lamotrigin), ein Stimmungsstabilisator; Lexapro (Escitalopram), ein Antidepressivum; und Seroquel, ein Antipsychotikum, das sie als Schlafmittel verwenden sollte. Ihr Vater, Lyman, sagte: "Ich war nicht davon überzeugt, dass die Medikamente helfen würden. Oder dass sie nicht geholfen haben."

Laura kehrte nach Harvard zurück und schaffte es, ihren Abschluss zu machen, eine Leistung, die sie ihrem Gedächtnis zuschrieb. Sie war die Art von Schülerin, die Informationen wieder abrufen konnte, ohne sie aufzunehmen. Später hatte sie eine Reihe von Jobs - als Assistentin für einen Professor und für eine staatliche Behörde, die Baugenehmigungen ausstellte -, die ihrer Meinung nach nicht zu einer Karriere führen würden. Sie erlebte, was John Teasdale, ein Forschungspsychologe an der University of Oxford, "Depression über Depressionen" nannte. Sie interpretierte jeden Moment der Lethargie oder Enttäuschung als den Beginn einer schwarzen Stimmung, die nie enden würde. Psychiatrische Diagnosen können Menschen in einen Teufelskreis verstricken: Sie sind depressiv, weil sie depressiv sind.

In den nächsten vier Jahren verdreifachten die Ärzte ihre Dosis an Antidepressiva. Ihre Dosierung von Lamictal (Lamotrigin) vervierfachte sich. Sie fing auch an, Klonopin (Clonazepam), ein Benzodiazepin, zu nehmen, eine Medikamentengruppe, die beruhigende Wirkungen hat. "Was ich viel gehört habe war, dass ich behandlungsresistent sei", sagte sie. "Etwas in mir war so stark und mächtig, dass es selbst diese hoch entwickelten Medikamente nicht in den Griff bekommen konnten."

Für einen kurzen Zeit suchte Laura einen Psychiater auf, der auch Psychoanalytiker war. Er hinterfragte die Art und Weise, wie sie ihre Krankheit beschrieb. Er bezweifelte ihre frühe bipolare Diagnose und notierte, dass "viele Depressionen von einem Psychiater einen "medizinischen" Namen erhalten, das Problem der "Chemie" zugeschrieben und der Kontext und die Besonderheit vernachlässigt werde, warum jemand diese besonderen Lebensprobleme zu diesem bestimmten Zeitpunkt hat". Er erinnerte sie daran: "Du hast beschrieben, dass du es hasst, eine Frau zu werden." Laura entschied, dass "er nicht seriös sei". Sie hörte auf, zu ihren Terminen zu gehen.

Nur selten traf sie sich mit Freunden von der High School oder dem College. "An einem bestimmten Punkt hieß es nur noch: „Oh, mein Gott, Laura Delano - sie ist krank", sagte eine Freundin von der High School. "Sie schien wie betäubt zu sein." Laura hatte seit dem ersten Jahr fast vierzig Pfund zugenommen, was sie zum Teil auf die Medikamente zurückführt. Als sie in den Spiegel schaute, spürte sie wenig Verbindung zu ihrem Spiegelbild. "Alles, was ich will ist, in meinem Bett zu liegen, mit meinem Hund zu kuscheln und Bücher von Autoren zu lesen, mit denen ich mich identifizieren kann", schrieb sie an einen Psychiater. "Das ist alles, was ich will." Sie identifizierte sich intensiv mit Plath, einer brillanten, privilegierten, charismatischen jungen Frau, die sich in ihrem Tagebuch vorwirft, nur eine weitere "selbstsüchtige, egozentrische, eifersüchtige und einfältige Frau" zu sein. Laura sagte, dass, als sie Plaths Werk las, sie sich "zum ersten Mal wahrgenommen" fühlte.

Laura fand einen Psychiater, den sie bewunderte und den ich Dr. Roth nennen werde. Während ihrer Termine, verfiel Laura in einen Modus, in dem sie ihre psychischen Konflikte in einem kühlen, klinischen Ton nacherzählen konnte und stolz auf ihre psychiatrische Kompetenz war. Sie sah ihre Medikamente als Präzisionsinstrumente, die ihr Leiden beseitigen konnten, sobald sie und Dr. Roth die richtige Kombination fänden. "Ich habe mich selbst medizinisch behandelt, als wäre ich eine fein kalibrierte Maschine. Der kleinste Fehler könnte mich möglicherweise aus der Bahn werfen", schrieb sie später. Wenn sie mit jemandem Kaffee trank und zu aufgeregt und gesprächig wurde, dachte sie: „Oh, mein Gott, ich könnte im Moment hypoman sein.“ Wenn sie mit Panik aufwachte, dachte sie: "Meine Symptome der Angst nehmen zu. Ich sollte darauf aufpassen. Wenn sie mehr als ein oder zwei Tage anhalten, muss Dr. Roth möglicherweise meine Medikamente erhöhen."

2008, am Tag vor Thanksgiving, fuhr Laura an die Südküste von Maine, zum Haus ihrer verstorbenen Großeltern. Ihre ganze Familie war dort, um den Feiertag zu verbringen. Sie bemerkte, dass Verwandte ihre Schultern strafften, als sie mit ihr sprachen. "Sie schien schweigsam und verschlossen zu sein", sagte ihre Cousine Anna. Als Laura durch das Haus ging und die alten Holzdielen unter ihren Füßen knarrten, schämte sie sich, zu viel zu wiegen.

Am dritten Tag holten sie ihre Eltern ins Wohnzimmer, schlossen die Türen und sagten ihr, dass sie wie gefangen wirkte. Beide weinten. Laura saß auf einem Sofa mit Blick auf das Meer und nickte, aber sie hörte nicht zu. "Das erste, was mir in den Sinn kam, war. Du hast alle zu sehr belastet."
Sie ging in ihr Schlafzimmer und nahm sich 80 mg Klonopin, 800 mg Lexapro und 6.000 mg Lamictal. Dann schlich sie sich in die Speisekammer und packte eine Flasche Merlot. Sie steckte den Wein zusammen mit ihrem Laptop in einen Rucksack. Ihre Schwestern und Cousins waren gerade dabei, zu einer Yoga-Klasse zu gehen. Ihre jüngste Schwester, Chase, bat sie, sich ihnen anzuschließen, aber Laura sagte, dass sie nach draußen ginge, um zu schreiben. " Ihre Augen waren so tot", sagte Chase. "Es gab keinen Ausdruck. Da war wirklich nichts."

Es gab zwei Wege zum Meer, einer führte zu einer Sandbucht, der andere zur Felsküste, wo Laura und ihre Schwestern oft nach gestreiften Barschen fischten. Laura nahm den Weg zu den Felsen und passierte einen großen Felsbrocken, über den ihre Schwester Nina, eine Geologiestudentin, ihre Diplomarbeit geschrieben hatte. Die Flut war schwach und es war kalt und windig. Laura lehnte sich an einen Felsen, nahm ihren Laptop heraus und begann zu tippen. "Ich werde nicht versuchen, dies poetisch zu machen, weil es das nicht ist", schrieb sie. "Es ist ein beschämendes Klischee anzunehmen, dass man seinen Familienangehörigen einen Brief schreiben sollte, wenn man sein Leben beendet."

Sie schluckte eine Handvoll Pillen auf einmal und spülte sie mit Rotwein hinunter. Sie hatte immer größere Schwierigkeiten, aufrecht zu sitzen, ihr Blick trübte sich. Als sie das Bewusstsein verlor, dachte sie: „Das ist die friedlichste Erfahrung, die ich je gemacht habe.“ Sie war dankbar, dass sie ihr Leben an einem so schönen Ort beendet hatte. Sie fiel hin und schlug mit dem Kopf auf einen Felsen. Sie hörte das Geräusch, fühlte aber keine Schmerzen.

Als Laura in der Abenddämmerung nicht zurückgekehrte, ging ihr Vater mit einer Taschenlampe am Ufer entlang, bis er ihren offenen Laptop auf einem Felsen sah. Laura wurde ins Massachusetts General Hospital gebracht, aber die Ärzte sagten, sie seien sich nicht sicher, ob sie jemals wieder zu Bewusstsein kommen würde. Sie war stark unterkühlt.

Nach zwei Tagen im künstlichen Koma wachte sie auf der Intensivstation auf. Ihre Schwestern und Eltern waren bei ihr, als sie ihre Augen öffnete. Chase sagte: "Sie sah uns alle an und realisierte, dass wir alle da waren, dass sie noch am Leben war. Sie begann zu schluchzen und sagte: "Warum bin ich noch hier?“

Nach ein paar Tagen wurde Laura ins McLean Hospital gebracht, wo sie sieben Jahre zuvor mit Begeisterung hingegangen war. Jetzt war sie schwach, schwindelig, schwitzend und anämisch. Ihr Körper schmerzte von einem Zustand namens Rhabdomyolyse, der aus der Freisetzung von Skelettmuskelfasern in den Blutkreislauf resultiert. Sie hatte ein blaues Auge vom Sturz auf den Felsen. Dennoch kehrte sie innerhalb weniger Tage zu der von ihr gewählten Verhaltensweise gegenüber den Ärzten zurück. "Ihr Blickkontakt und ihr soziales Verhalten waren intakt", schrieb ein Arzt. Obwohl sie immer noch enttäuscht war, dass ihr Selbstmord nicht geglückt war, fühlte sie sich schuldig, weil ihre Familie sich Sorgen gemacht hatte. Sie erzählte, dass sie "Regeln befolgen müsse", schrieb ein Arzt. Ein anderer Arzt stellte fest, dass sie trotz ihres Selbstmordversuchs nicht die Kriterien für eine schwere Depression zu erfüllen schien. Eine Ärztin vermutete, dass sie eine Borderline-Störung habe, eine Krankheit, die durch instabile Beziehungen und Selbstbild und ein chronisches Gefühl der Leere gekennzeichnet sei. Laut ihren medizinischen Unterlagen stimmte Laura der Diagnose zu. "Vielleicht habe ich eine Borderline-Störung", sagte sie.

Sie bekam eine neue Kombination von Medikamenten: Lithium, um ihre Stimmung zu stabilisieren, und Ativan (Lorazepam), ein Benzodiazepin, zusätzlich zu dem antipsychotischen Seroquel, das sie bereits genommen hatte. Später wurde ein zweites Antipsychotikum, Abilify, hinzugefügt - eine gängige Praxis, obwohl es nur begrenzte Forschungen gab, die den Einsatz von Antipsychotika in Kombination rechtfertigten. "Es ist verlockend, eine zweite Droge hinzuzufügen, nur um etwas zu tun", warnte bereits 2004 ein Artikel in der Zeitschrift Current Medicinal Chemistry.
Kurz bevor Laura entlassen wurde, verfasst sie einen Brief an das Stationspersonal. "Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll, die Wertschätzung, die ich für das empfinde, was ihr alle getan habt um mir zu helfen, in Worte zu fassen", schrieb sie. "Es ist so viele Jahre her, dass ich diese - hautsächlich - positiven Emotionen empfunden habe, die über mich hereingebrochen sind." Unbeeindruckt von ihren eigenen Gefühlen beendete sie den Brief mitten im Satz und schickte ihn nie ab.

Laura zog zurück zu ihren Eltern nach Greenwich und verbrachte ihre Nächte damit, mit alten Freunden zu trinken. Sie sagte zu ihrem Psychiater: "Ich fühle mich nicht geerdet. . . . Ich schwebe." Ihr Vater ermutigte sie, "zu versuchen, nach einem kleinen, winzigen positiven Gedanken zu greifen, damit Di ein wenig Erleichterung erfährst". Als sie das nicht schaffte, drängte er sie: "Denk nur an Bitsy", ihren Cairn Terrier.
Als es klar war, dass ein positives Denken außer Reichweite lag, begann Laura einen neuen Psychiater bei McLean zu konsultieren. Er vertrat die Theorie, dass ihr zugrunde liegendes Problem eine Borderline-Persönlichkeitsstörung war. "Es ist unklar, ob sie bipolar ist (wie in der Vergangenheit diagnostiziert)", schrieb er.

Der Begriff der Borderline-Persönlichkeit in der medizinischen Literatur entstand in den 1930er Jahren und beschrieb Patienten, die nicht in bereits etablierte Krankheitskategorien passten. Die Psychoanalytikerin Helene Deutsch, eine Kollegin von Freud, beschrieb eine Borderline-Frau: "Es ist wie die Leistung eines Schauspielers, der technisch gut ausgebildet ist, aber nicht über den nötigen Funken verfügt, um seine Interpretation lebensnah wirken zu lassen.". 1980 wurde diese Diagnose der DSM hinzugefügt, die feststellte, dass "die Erkrankung bei Frauen häufiger diagnostiziert wird". Eines der charakteristischen Merkmale ist ein konturloses, sich veränderndes Selbstgefühl. Ein Leitartikel in der diesjährigen Lancet Psychiatry vermutet, dass "eine Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht so sehr eine Diagnose, sondern ein Schwellenzustand sei".

Im Jahr 2010 zog Laura zu ihrer Tante Sara, die außerhalb von Boston lebte und nahm an einem Tagesprogramm für Borderline-Patienten teil. "Es war eine weitere Therapie, das mich in Ordnung bringen sollte und ich hatte es noch nicht probiert", meinte Laura. Bei ihrem Aufnahmegespräch trug sie eine dehnbare schwarze Yoga-Hose, eine der wenigen Kleidungsstücke, die es ihr ermöglichte, sich unsichtbar zu fühlen. Sie erzählt, dass der Leiter des Programms zu ihr sagte: "Sie waren also in Harvard. Ich wette, Sie dachten nicht, dass Sie je an einem Ort wie diesem landen würden." Laura begann sofort zu weinen, obwohl sie wusste, dass ihre Reaktion als "emotionale Labilität" interpretiert werden würde, ein Symptom der Störung.

Laura war damit zufrieden, bipolar zu sein. "Ich passte perfekt in die DSM-Kriterien", sagt sie. Aber eine Borderline-Persönlichkeitsstörung fühlte sich für sie an, als sei sie nicht schuldlos daran. Fast alle Patienten in Lauras Gruppe waren Frauen. Viele hatten Vorgeschichten mit sexuellen Traumata oder waren in destruktiven Beziehungen. Laura sagte, dass sie die Diagnose der Ärzte wie folgt interpretierte: "Du bist eine nuttige, manipulative, abgefuckte Person."

Zeitweise trank Laura sehr viel und auf Vorschlag einer Freundin hatte sie damit begonnen, an den Treffen der Anonymen Alkoholiker teilzunehmen. Laura war sehr beeindruckt von den Geschichten gebrochener Menschen, die irgendwie überlebt hatten. Bei den Treffen fehlte ihr jedoch die eigene Hinwendung, die ständige Wendung nach innen, die sie in der Klinik spürte, wo sie jeden Tag eine Therapie besuchte. Als Lauras Apotheker ihr Naltrexon verschrieb - ein Medikament, das das Verlangen nach Alkohol blockieren soll - war Laura beleidigt. Wenn sie schon mit dem Trinken aufhören sollte, wollte sie zumindest das Gefühl haben, dass sie es selbst geschafft hatte.

Sie nahm bereits Effexor (Venlafaxin) (ein Antidepressivum), Lamictal (Lamotrigin), Seroquel, Abilify, Ativan (Lorazepam), Lithium und Synthroid (Thyroxin), ein Medikament zur Behandlung von Hypothyreose, eine Nebenwirkung von Lithium. Die Medikamente sedierten sie so stark, dass sie manchmal vierzehn Stunden pro Nacht schlief. Als sie einen Therapietermin verschlief, rief ihr Therapeut die Polizei, um nach ihr zu sehen. "Das hat in mich wachgerüttelt", erzählt Laura.

Im Mai 2010, nur wenige Monate nach Beginn der Therapie in der Borderlineklinik, ging sie in eine Buchhandlung, obwohl sie nur noch selten las. Auf dem Tisch der Neuerscheinungen stand "Anatomy of an Epidemic" von Robert Whitaker, dessen Cover eine Zeichnung des Kopfes einer Person zeigte, die mit den Namen mehrerer Medikamente beschriftet war, die sie genommen hatte. In dem Buch wird die Tatsache dargelegt, dass die Zahl, der an psychische Erkrankungen leidenden Amerikaner, gestiegen ist. Grund dafür sind die zunehmende Komplexität und Verfügbarkeit von Psychopharmaka. Whitaker argumentiert, dass hochdosierte psychiatrische Medikamente, die im Laufe eines Lebens eingenommen werden, einige episodische Erkrankungen in chronische Störungen verwandeln können. (Das Buch wurde hoch gelobt, da es eine Hypothese von außerordentlicher Bedeutung vorstellte, wurde jedoch auch kritisiert, weil es Beweise überzeichnet und sprachlich einem Kreuzzug ähnelte).

Laura schrieb Whitaker eine E-Mail mit dem Betreff "Psychopharmaka und Selbstwertgefühl" und listete die vielen Medikamente auf, die sie eingenommen hatte. "Ich bin in einer Vorstadt aufgewachsen, die den Standpunkt vertritt, dass Glück dadurch entsteht, dass man perfekt aussieht", schrieb sie. Whitaker lebte in Boston und sie trafen sich zum Kaffee. Whitaker erzählte mir, dass Laura ihn an viele junge Leute erinnerte, die ihn nach dem Lesen des Buches kontaktiert hatten. Er sagte: "Ihnen wurde ein Medikament verschrieben, dann ein zweites und ein drittes, und sie wurden in diese andere Richtung gelenkt, wo sich ihre Eigenwahrnehmung von normal zu abnormal ändert - ihnen wird gesagt, dass, im Grunde genommen, etwas mit ihrem Gehirn nicht stimmt und dass es nicht vorübergehend ist - dass verändert ihr Stabilitätsgefühl und die Art, wie sie sich anderen gegenüber verhalten".

Bei ihren Terminen mit ihrem Arzt äußerte Laura ihre Absicht, die Medikamente abzusetzen. Sie hatte in 14 Jahren 19 Medikamente genommen und es ging ihr nicht besser. "Ich hatte nie ein elementares Empfinden von mir selbst. Nicht von dem, was ich bin. Nicht von dem, was meine Fähigkeiten sind", sagte sie. Die Ärzte in der Borderlineklinik widersetzten sich zunächst ihren Wünschen, schienen dann aber auch zu erkennen, dass Lauras innere Konflikte die Gehirntätigkeiten überdeckten. Ein paar Monate zuvor hatte ein Arzt auf einem Rezeptblock "Üben Sie Mitgefühl mit sich" geschrieben und als Anzahl der Folgerezepte, hatte er geschrieben: "Unendlich".

Laura folgte dem Rat ihres Pharmakologen und setzte zunächst Ativan (Lorazepam), das Benzodiazepin, ab. Ein paar Wochen später setzte sie Abilify, das Antipsychotikum, ab. Sie begann so stark zu schwitzen, dass sie nur Schwarz tragen konnte. Wenn sie ihren Kopf schnell drehte, fühlte sie sich schwindlig. Ihr Körper schmerzte und gelegentlich wurde sie von Wellen der Übelkeit überwältigt. Zystische Akne brach auf ihrem Gesicht und ihrem Hals aus. Ihre Haut pulsierte vor seltsamer Energie. "Ich habe mich nie ruhig in meinem Körper gefühlt", sagt sie. "Es fühlte sich an, als wäre eine Art Strom unter meiner Haut. Und ich war in dieser Hülle gefangen, die ständig brummte."

Einen Monat setzte sie Effexor (Venlafaxin), ein Antidepressivum, ab. Ihre Angst vor Menschen, die sie verurteilten, kreiselte in ihrem Kopf und das in einer zunehmend eindringlichen Form. Als ein Kassierer im Lebensmittelgeschäft mit ihr sprach, war sie davon überzeugt, dass er nur vorgab, herzlich zu sein - was er ihr wirklich sagen wollte, war: "Du bist ein abstoßender, ekelhafter, erbärmlicher Mensch". Sie wurde durch die Farben der Müslischachteln im Laden und durch die Geräusche von Menschen, die reden und sich bewegen, überreizt. "Ich fühlte mich, als könnte ich mich nicht vor all dem Leben um mich herum schützen", sagt sie.

Sie begann, Gefühle zu erleben, die aus dem Zusammenhang gerissen waren - es fühlte sich gleichzeitig ganzheitlich und gekünstelt an. "Die Emotionen beschäftigten mich. Auf einer Ebene wusste ich, dass sie nicht zu mir gehörten, aber ich fühlte mich von ihnen beherrscht", sagt sie. Später fand sie im Internet eine Gemeinschaft von Menschen, die Psychopharmaka nur mit Mühe absetzen können. Diese Menschen hatten ein Wort erfunden, um ihre Erfahrung zu beschreiben: "Neuroemotion", ein übertriebenes Gefühl, das nicht in der Realität verankert ist. Das Webforum Surviving Antidepressiva, welches jede Woche von Tausenden von Menschen besucht wird, listet die vielen Varianten der Neuroemotion auf: Neurofurcht, Neuroärger, Neuroschuld, Neuroscham, Neurobedauern. Ein weiteres Wort, das die Mitglieder benutzten, war "Dystalgie", eine Flut der Verzweiflung darüber, dass das eigene Leben sinnlos ist.

Für viele Leute im Forum war es unmöglich, ihre Erfahrung in Worte zu fassen. "Die Wirkungen dieser Medikamente kommen deinen grundlegenden " Existenzpolen" so nahe, dass es wirklich schwer ist, sie auf zuverlässige Weise zu beschreiben", schrieb eine Person. Ein anderer schrieb: "Dieser Entzugsprozess hat mich langsam von allem getrennt, was ich über mich und das Leben dachte. Stück für Stück sind Teile von "mir" abgefallen, so dass ich völlig leer bin. Es fehlt jegliches Gefühl, jemand zu sein."

Laura brauchte fünf Monate, um fünf Medikamenten abzusetzen. Ein Prozess, der mit einem wachsenden Zweifel an ihrer Diagnose einherging, die für sie zu einer Art Karriere geworden war. Als sie früher Symptome von Depressionen oder Hypomanie erlebt hatte, wusste sie genau, wie sie damit umgehen musste: Sie erinnerte sich an die Einzelheiten und teilte diese ihrem Psychiater mit. Jetzt hatte sie keine Worte, um ihre Erfahrungen zu beschreiben. Sie verbrachte Stunden allein, schaute "South Park" oder machte Puzzlespiele. Als ihre Tante Sara ihrer Familie über Laura berichtete, waren die Neuigkeiten immer die gleichen: Sie scherzten, dass Laura „Teil der Couch“ geworden sei. Ihre Familie, erzählt Laura, begann, um sie herum zu saugen. Wäre sie aus einer weniger wohlhabenden und weniger fürsorglichen Familie gekommen, sie wäre sich nicht sicher, ob sie ihre Medikamente hätte absetzen können. Andere in ihrer Situation hätten vielleicht ihren Job verloren und wären ohne Einkommen obdachlos geworden. Es dauerte sechs Monate, bis sie sich in der Lage fühlte, Teilzeit zu arbeiten.

Laura hatte immer angenommen, dass Depressionen durch ein genau definiertes chemisches Ungleichgewicht verursacht würden, das mit ihren Medikamenten wieder ausgeglichen werden sollte. Sie begann über die Geschichte der Psychiatrie zu lesen und erkannte, dass diese Theorie, die von Pharmaunternehmen stark propagiert wird, nicht eindeutig durch Beweise belegt ist. Die Genetik spielt bei psychischen Störungen eine Rolle, ebenso wie Umwelteinflüsse. Die Medikamente haben jedoch nicht die Eigenschaft, die Ursachen einer Krankheit anzugehen. Wayne Goodman, ehemaliger Vorsitzender des Psychopharmacologic Drugs Advisory Committee der F.D.A., ist der Ansicht, dass Pillen, die ein chemische Ungleichgewichte beheben, höchstens eine "nützliche Metapher" sein könnten, die er bei seinen Patienten aber nie einsetzen würde. Ronald Pies, ein ehemaliger Redakteur der Psychiatric Times, hat gesagt: "Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Psychiater, die diesen Ausdruck verwenden" - dass die Pillen chemische Ungleichgewichte beheben - "dabei unwohl und ein wenig beschämt fühlen. Es ist eine Art „Stoßfänger-Aufkleber-Phrase“, die Zeit spart."

Dorian Deshauer, Psychiater und Historiker an der University of Toronto, hat geschrieben, dass die in den 80er und 90er Jahren populär gewordene Theorie des chemischen Ungleichgewichts "die Wahrnehmung geschaffen hat, dass der langfristige, ja lebenslange Konsum von Psychopharmaka als logischer Schritt sinnvoll war". Psychopharmaka werden jedoch im Rahmen klinischer Studien auf den Markt gebracht, die in der Regel weniger als zwölf Wochen dauern. Nur wenige Studien begleiten Patienten, die die Medikamente mehr als ein Jahr lang einnehmen.

Allen Frances, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Universität Duke, der 1994 die Task Force für die vierte Ausgabe des DSM leitete, sagte mir, dass alle den Bereich hinsichtlich des Medikamentenentzuges vernachlässigt haben - eine Praxis, die als "de-prescribing" bekannt ist. Er sagte, dass "de-prescribing" viel mehr Geschicklichkeit, Zeit, Engagement und Wissen des Patienten erfordert als die Verschreibung". Er unterstreicht, was er ein "grausames Paradoxon" nennt: Es gibt eine große Zahl Menschen am Ende des Spektrums, die die Medizin wirklich brauchen" und entweder keinen Zugang zur Behandlung haben oder sie vermeiden, weil sie in ihrer Gemeinschaft stigmatisiert wird. Gleichzeitig werden viele andere "überversorgt“ und konsumieren die Medikamente dann jahrelang". Es gibt kaum Studien darüber, wie oder wann man Psychopharmaka absetzt, eine Situation, die ein so genanntes "nationales Experiment der öffentlichen Gesundheit" geschaffen hat.

Roland Kuhn, ein Schweizer Psychiater, dem 1956 die Entdeckung eines der ersten Antidepressiva, Imipramin, zugeschrieben wurde, warnte später davor, dass viele Ärzte nicht in der Lage sein würden, Antidepressiva richtig zu verwenden. "Weil sie die eigenen Erfahrungen des Patienten weitestgehend oder vollständig vernachlässigen". Die Medikamente könnten nur dann wirken, wenn ein Arzt "sich der Tatsache bewusst ist, dass er es nicht mit einem in sich geschlossenen, starren Objekt zu tun hat, sondern mit einem Individuum, das in ständige Bewegung und Veränderung eingebunden ist", schreibt er.

Ein Jahrzehnt nach der Erfindung von Antidepressiva erwiesen sich stichprobenartige klinische Studien als die zuverlässigste Form des medizinischen Fachwissens und ersetzten die bisherige Autorität individueller Fallstudien. Zwangsläufig können klinische Studien keine Stimmungsschwankungen erfassen, die für den Patienten sinnvoll sind, aber nicht in die Bewertungskategorien der Studie passen. Diese Methodik hat zu weitaus zuverlässigerem Datenmaterial geführt. Sie hat aber auch die Auffassung von psychischer Gesundheit subtil verändert. Diese psychische Gesundheit wurde zum Sinnbild für das Nichtvorhandensein von Symptomen – nicht für die Rückbesinnung auf die Grundsymtomatik eines Patienten; seine Stimmung oder Persönlichkeit vor und zwischen Krankheitsereignissen.

"Sobald man die Idee der individuellen Grundsymptomatik beiseiteschiebt, kann man emotionales Leiden als Rückfall betrachten - anstatt eines Problems, das aus der Lebensweise des Einzelnen in der Gemeinschaft zu erwarten ist", sagte Deshauer mir. Jugendliche, die Medikamente einnehmen, während sie noch im Selbstfindungsprozess sind, werden vielleicht nie wissen, ob sie eine Grundsymptomatik haben oder wie diese aussieht. "Es geht nicht so sehr um die Frage: Liefert die Technologie? (Anmerkung: er meint die Medikamente)" sagte Deshauer. "Es geht um die Frage, was wir von ihr verlangen."

Antidepressiva werden in den USA inzwischen von etwa jedem achten Erwachsenen und Jugendlichen eingenommen, ein Viertel von ihnen nimmt sie seit mehr als zehn Jahren ein. Das Geld der Industrie entscheidet oft darüber, welche Fragen, die sich aus pharmakologischen Studien ergeben haben, weiter erforscht werden - die Forschung zum Absetzen von Medikamenten war nie vorrangig.

Barbiturate, eine Klasse der Beruhigungsmittel, die Hunderttausenden von Menschen „entspannt“ hat, gehörten zu den ersten beliebten psychiatrischen Medikamenten. Obwohl führende Fachzeitschriften behaupteten, dass Barbituratabhängigkeit selten sei, war es innerhalb weniger Jahre offensichtlich, dass Menschen, die Barbituraten absetzten, ängstlicher werden konnten als vor Beginn der Medikamenteneinnahme. (Sie könnten auch halluzinieren, Krämpfe haben und sogar sterben.)

Valium und andere Benzodiazepine wurden Anfang der sechziger Jahre als sicherere Variante eingeführt. In den siebziger Jahren nahm jeder zehnte Amerikaner Valium ein. Der Leiter der klinischen Pharmakologie am Massachusetts General Hospital erklärte 1976: "Ich habe noch nie einen Fall von Benzodiazepinabhängigkeit gesehen" und bezeichnete ihn als "ein erstaunlich ungewöhnliches Ereignis". Später jedoch erkannte die F.D.A. an, dass Menschen von Benzodiazepinen abhängig werden können und heftige Unruhe erleiden, wenn sie absetzen.

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder S.S.R.I.s. - vor allem Prozac (Fluoxetin) und Zoloft (Sertralin) - wurden in den späten 80er und frühen 90er Jahren entwickelt und schlossen eine Marktlücke, die durch die Skepsis gegenüber Benzodiazepinen entstanden war. S.S.R.I.s. wurden bald nicht nur bei Depressionen verschrieben, sondern auch bei den Nervenkrankheiten, die man zuvor mit Benzodiazepine behandelt hatte. (Es gab auch andere Medikamente, die als Antidepressiva verwendet wurden, aber sie wurden oft vorsichtig verschrieben, weil man sich Sorgen um ihre Nebenwirkungen machte). Wie Jonathan Metzl in "Prozac on the Couch" schreibt, wurden S.S.R.I.s. vor allem an weibliche Verbraucher verkauft. Als Medikamente, die sie am Arbeitsplatz stärken und gleichzeitig die weiblichen Eigenschaften, die sie zu Hause benötigen, bewahren würden. Eine Anzeige für Zoloft (Sertralin) zeigte eine Frau in einem Hosenanzug, die die Hände ihrer beiden Kinder hielt, ihr Ehering war hervorgehoben, daneben der Satz "Leistung, die sanft spricht". Heute nimmt jede fünfte weiße Amerikanerin Antidepressiva ein.

Bedenken bezüglich Entzugserscheinungen traten kurz nach der Markteinführung von S.S.R.I.s. auf und betrafen oft schwangere Frauen, denen gesagt worden war, sie sollten ihre Medikamente absetzen, aus Sorge, dass die Medikamente Auswirkungen auf den Fötus haben könnten. Ein Artikel aus dem Jahr 2001 im Journal of Psychiatry & Neuroscience berichtete von 36 Frauen, die entweder Antidepressiva, Benzodiazepine oder eine Kombination von beiden einnahmen und die die Einnahme der Medikamente abbrachen, als sie schwanger wurden. Ein Drittel der Patientinnen gab an, sich suizidal zu fühlen, vier wurden in ein Krankenhaus eingeliefert. Eine hatte eine Abtreibung, weil sie sich nicht mehr dazu in der Lage fühlte, die Schwangerschaft auszutragen.

Interne Unterlagen von Pharmaherstellern zeigen, dass den Unternehmen das Entzugsproblem bekannt war. Auf einer Podiumsdiskussion 1996 lud Eli Lilly (Anmerkung: ein großes Pharmaunternehmen) sieben Experten ein, eine Definition über den Antidepressiva-Entzug zu erarbeiten. Ihre Ergebnisse wurden in einer von Eli Lilly gesponserten Beilage des Journal of Clinical Psychiatry veröffentlicht, die für das firmeneigene Produkt Prozac (Fluoxetin) warb. Prozac (Fluoxetin) hat die längste Halbwertszeit aller S.S.R.I.s; das Medikament baut sich nur sehr langsam ab. Die Diskussionsteilnehmer stellten fest, dass der Entzug anderer Antidepressiva eher zu „Beendigungsreaktionen wie Aufregung, Entfremdung, untypischen Schreierscheinungen und lähmender Traurigkeit " führen würde. "Obwohl im Allgemeinen mild und kurzlebig", erklärte ein Beitrag in der Ergänzung, "können die Symptome einer Absetzung schwer und chronisch sein". Das Expertengremium definierte das "Diskontinuitätssyndrom" als eine Erkrankung, die durch die Wiedereinnahme des ursprünglichen Medikaments "schnell rückgängig gemacht werden könne".

Kurz nach dem Eli Lilly Podium verteilte SmithKline Beecham, das Paxil (Paroxetin) herstellte, ein Memo an sein Verkaufsteam, in dem Eli Lilly beschuldigt wurde, die Entzugserscheinungen seiner Produkte "zu vertuschen". "Die Wahrheit ist, dass das einzige Absetzssyndrom, um das sich Lilly Sorgen macht, die Absetzung von Prozac (Fluoxetin) ist", so die Mitteilung. In einem weiteren internen Memo wies SmithKline Beecham die Mitarbeiter an, "die gutartige Natur der Absetzerscheinungen hervorzuheben, anstatt über ihre Häufigkeit zu streiten".

Guy Chouinard, ein pensionierter Professor für Psychiatrie an der Universität von Montreal und McGill, der zehn Jahre lang als Berater für Eli Lilly tätig war und eine der ersten klinischen Studien mit Prozac (Fluoxetin) durchführte, erzählte mir, dass er, als S.S.R.I.s. auf den Markt kam, begeistert war, seine Patienten zu sehen, die zuvor durch Selbstzweifel und Angst verkrüppelt waren und nun ein akzeptables und erfülltes Leben führten. Chouinard gilt als einer der Gründer der Psychopharmakologie in Kanada. In den frühen 2000er begann er Patienten zu behandeln, die nach jahrelanger Einnahme bestimmter Antidepressiva ihre Medikamente abgesetzt hatten. Sie litten an einer, von ihm als "Crescendo-ähnliche" Angst und Panik beschriebene, Furcht, die sich über Wochen und in einigen Fällen auch über Monate hinzog. Als er ihre Medikamente wieder in den Behandlungsplan aufnahm, begannen sich ihre Symptome zu bessern, in der Regel innerhalb von zwei Tagen.

Die meisten Menschen, die Antidepressiva absetzen, leiden nicht an Entzugserscheinungen, die länger als ein paar Tage anhalten. Einige erleben überhaupt keine. "Die medizinische Literatur zu diesem Thema ist ein Chaos", sagte Chouinard zu mir. "Psychiater kennen ihre Patienten nicht besonders gut - sie verfolgen sie nicht langfristig - und sie wissen nicht, ob sie ihren Patienten glauben sollen, wenn diese sagen: "Ich habe so eine Erfahrung noch nie in meinem Leben gemacht." Chouinard ist der Ansicht, dass Entzugserscheinungen, die falsch diagnostiziert wurden und nicht ausreichend Zeit zur Heilung hatten, einen falschen Eindruck erzeugen. Nämlich den, dass Patienten nur dann funktionsfähig sind, wenn sie ihre Medikamente wieder einnehmen.

Giovanni Fava, Professor für Psychiatrie an der Universität von Buffalo, hat einen Großteil seiner Laufbahn dem Studium des Entzugs gewidmet. Er hat Patienten mit Entzugserscheinungen ein Jahr lang nach dem Absetzen von Antidepressiva begleitet. Ein Artikel, der letzten Monat in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift (Psychotherapie und Psychosomatik), überprüfte achtzig Untersuchungen und fand heraus, dass in fast 2/3 der Fälle die Patienten in weniger als zwei Wochen von ihren Medikamenten entzogen wurden. Die meisten Untersuchungen haben nicht berücksichtigt, wie ein so abrupter Entzug die Ergebnisse der Studien verfälschen kann: Entzugserscheinungen können leicht als Rückfall fehlklassifiziert werden. Fava's Arbeit wird weithin zitiert, doch er berichtet, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Forschung zu diesem Thema zu veröffentlichen. Das macht bis zu einem gewissen Grad Sinn: Niemand will Menschen davon abhalten, Arzneimittel zu nehmen, die ihr Leben retten oder sie von einer Erkrankung befreien können. Aber die Untersuchung oder der Informationenaustausch über dieses Thema zu vermeiden - weiter davon auszugehen, dass Menschen den Nutzen der Medikamente, aber nicht ihre Grenzen verstehen können - scheint ein Muster des Bevormundungswesens zu wiederholen, das an frühere Epochen in der Geschichte der Psychopharmakologie erinnert.

David Taylor, Leiter der Pharmazie und Pathologie am Maudsley Hospital in London und Autor von mehr als dreihundert peer-reviewed Papers, sagte mir: "Es ist nicht so, als ob wir bisher nicht von dieser Sache betroffen gewesen wären." Wenn er den Entzug von Antidepressiva nicht selbst erlebt hätte, sagte Taylor: "Ich glaube, ich wäre von den Normtexten begeistert." „Aber“, sagte er, "die Erfahrung ist ganz anders als das, was auf dem Papier steht."

Taylor beschreibt seine eigenen Entzugserscheinungen vom Antidepressivum Effexor (Venlafaxin) als "seltsame, beängstigende und qualvolle" Erfahrung, die sechs Wochen dauerte. In einem Artikel, der letzten Monat in der Lancet Psychiatry veröffentlicht wurde, analysierte er zusammen mit einem Co-Autor die bildgebenden Verfahren zur Darstellung des Gehirns und Fallstudien zum Thema Entzug und argumentierte, dass Patienten Antidepressiva über Monate hinweg absetzen sollten, anstatt in zwei bis vier Wochen, wie die aktuellen Richtlinien es empfehlen. Solche Richtlinien basieren auf der Annahme, dass eine Dosis, wenn sie um die Hälfte vermindert wird, die Wirkung im Gehirn einfach um die Hälfte reduziert. In dem Artikel wird ausgeführt, dass der zunehmende langfristige Konsum von Antidepressiva "zum Teil daraus resultiert, dass Patienten aufgrund der aversiven Natur des Entzugssyndroms nicht mehr aufhören wollen". Aber, sagte Taylor mir, seine Forschung "würden ihn nicht davon abhalten, ein Antidepressivum für jemanden mit einer ausgeprägten, schweren Depression zu empfehlen, denn die Linderung des Leidens ist von einer anderen Größenordnung als die Symptome, wenn man die Einnahme beendet."

In der fünften Ausgabe des DSM, die 2013 veröffentlicht wurde, fügten die Redakteure einen Eintrag für das "Antidepressivum Discontinuation Syndrom" hinzu - eine Bezeichnung, die auch auf Medikamentenetiketten erwähnt wird -, aber die Beschreibung ist vage und spekulativ und stellt fest, dass "langlaufende Studien fehlen "und dass wenig über den Verlauf des Syndroms bekannt ist. "Die Symptome scheinen mit der Zeit nachzulassen", erklärt das Handbuch und stellt fest, dass "einige Personen es vorziehen, die Medikamente auf unbestimmte Zeit wieder einzunehmen".

In der fünften Ausgabe des DSM, die 2013 veröffentlicht wurde, fügten die Redakteure einen Eintrag für das "Antidepressivum Discontinuation Syndrom" hinzu - eine Bezeichnung, die auch auf Medikamentenetiketten erwähnt wird -, aber die Beschreibung ist vage und spekulativ und stellt fest, dass " Längere Studien fehlen " und dass wenig über den Verlauf des Syndroms bekannt ist. "Die Symptome scheinen mit der Zeit nachzulassen", erklärt das Handbuch und stellt fest, dass "einige Personen es vorziehen, die Medikamente auf unbegrenzte Zeit wieder einzunehmen".

Drei Monate nachdem Laura alle ihre Medikamente abgesetzt hatte, ging sie in Boston eine Straße entlang und spürte ein Flackern von sexuellem Verlangen. "Es war so unangenehm und fremd für mich, dass ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte", sagte sie. Das Gefühl begann zu zufälligen Tageszeiten, oft in der Öffentlichkeit und in Abwesenheit eines Anziehungsgegenstandes. "Es war, als würde dieser Teil meines Körpers wieder online gehen und ich hatte keine Ahnung, wie man ihn kanalisiert", sagte sie. "Ich fühlte mich von dieser überwältigenden Kraft regelrecht besessen." Sie hatte nie masturbiert. "Ich fragte mich, warum die Leute das mögen. Es ergab für mich keinen Sinn."

Mit 31 begann sie eine Fernbeziehung mit Rob Wipond, einem kanadischen Journalisten. Beide wurden emotional, als sie mit mir über Lauras Sexualität sprachen. Laura sagte mir: "Ich fühlte mich wie ein Neugeborenes. Ich hatte noch nicht herausgefunden, wozu mein Körper gedacht war." Rob sagte: "Sie war offen und wach. Alles war neu für sie. Für uns war es wie, " Du meine Güte, was ist diese Sexualitätssache - was sollen wir tun?"
Jahrelang war Laura nicht in der Lage gewesen, feste Beziehungen einzugehen - sie dachte, dies sei ein Symptom der Borderline-Erkrankung. "Ich dachte ernsthaft, dass, weil ich psychisch krank war, die Gefühllosigkeit Teil von mir war", sagte sie mir. "Ich sah mir schöne Sexszenen in Filmen an und mir kam nie in den Sinn, dass das für mich in Frage kam." Nun fragte sie sich, welche Auswirkungen die vielen Medikamente hatten, die sie eingenommen hatte. "Auf dieser sehr sensorischen, somatischen Ebene konnte ich mich nicht mit einem anderen Menschen verbinden", sagte sie. "Es fühlte sich nie real an. Es fühlte sich künstlich an."

Laura kaufte ein Buch über weibliche Sexualität und lernte, sich selbst zum Orgasmus zu bringen. "Es dauerte so lange, bis ich es endlich herausfand und als es dann soweit war, brach ich einfach in Tränen aus und rief Rob an und ich sagte: "Ich habe es getan"! Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft! ”

Sie war glücklich, dass ihre Libido in einer Weise zurückgekehrt war, die anderen Menschen, die Medikamente absetzen, verwehrt bleibt. Obwohl davon ausgegangen wird, dass Menschen ihre sexuelle Grundlinie zurückgewinnen, ist Libidoverlust ein wiederkehrendes Thema in Online-Absetzforen.

Audre Bahrick ist eine Psychologin an der University of Iowa - Counseling Service. Sie veröffentlichte Beiträge über die Auswirkungen von S.S.R.I.s auf die Sexualität. Sie erzählte mir, dass sie vor etwa zehn Jahren, nachdem eine ihr nahestehende Person, ihre Libido durch S.S.R.I.s. verloren hatte, "ziemlich besessen davon wurde, das Thema zu untersuchen, aber die tatsächliche qualitative Erfahrung der Patienten nie dokumentiert wurde. Es gab die Vermutung, dass die Symptome verschwinden würden, wenn man das Medikament absetzt. Ich dachte einfach weiter: Wo sind die Zahlen? Wo sind die Fakten?" In ihrer Rolle als Beraterin erlebt Bahrick jedes Jahr Hunderte von Studenten, von denen viele seit ihrer Jugend S.S.R.I.s. nehmen. Sie sagte mir: "Ich hatte die Erwartung, dass die junge Menschen wegen den Nebenwirkungen auf die Libido ziemlich verzweifelt seien, aber meine klinische Beobachtung ist, dass diese jungen Menschen noch nicht wissen, was Sexualität wirklich bedeutet oder warum sie eine solche treibende Kraft ist."

Laura fühlte sich, als würde sie zum ersten Mal die Umrisse ihres erwachsenen Selbst erkennen. Als sie früher Angst oder Verzweiflung empfand, versuchte sie, dieses Gefühl zu akzeptieren, ohne es als Zeichen dafür zu werten, dass sie krank sei und für immer so bleiben würde. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie Selbstmord verübte oder ein neues Medikament nahm. Es sei wie eine Offenbarung, sagte sie, zu erkennen, dass "das lebendig zu sein, nicht die Abwesenheit von Schmerz ist". Sie erinnerte sich, dass sie sich mit einer traurigen kleinen Blase identifizierte, die in einer beliebten Werbung für Zoloft abgebildet war - die Blase bläst Trübsal, weint und stöhnte, bis sie das Medikament nimmt und zu hüpfen beginnt, während die Vögel singen. Laura wurde zunehmend bewusst, dass ihr Glaube an das Potenzial der Medikamente überzogen war. "Ich habe es nie so empfunden, dass mir die Medikamente geholfen hätten, selbst einen Sinn zu haben, einen Selbstzweck; Beziehungen zu haben, die für mich wichtig sind", berichtet sie. Übermedikamentierung ist nicht immer auf Fahrlässigkeit zurückzuführen; es kann auch sein, dass Medikamente die einzige Form der Hilfe sind, die einige Leute bereit sind zu akzeptieren. Laura versuchte, eine Ausdrucksweise zu finden, um ihre Emotionen und Gemütszustände zu beschreiben, anstatt sie automatisch Symptome zu nennen. "Das Wort, das ich dafür verwende, ist "verlernen"," sagte sie. "Du entfernst Schichten, die dir aufgezwungen wurden."

Laura empfindet immer noch Sympathie für die meisten ihrer Psychiater, aber, so sagt sie, "der Verlust meiner Sexualität ist der schwierigste Aspekt, um Frieden schließen zu können - es fühlt sich wie ein Verrat an. Ich habe entdeckt, wie sehr der Reichtum des menschlichen Seins in der Sexualität liegt."

Sie schrieb mehrere Briefe an Dr. Roth, ihre Lieblingspsychiaterin, und forderte ihre Krankenakten an, weil sie verstehen wollte, wie der Arzt ihre Gefühllosigkeit und die jahrelange Verschlechterung damals eingeschätzt hatte. Nach über einem Jahr stimmte Dr. Roth einem Treffen zu. Laura bereitete sich stundenlang darauf vor. Sie wollte damit anfangen, zu sagen: "Ich sitze vor Ihnen und bin von all diesen Medikamenten befreit, und ich habe mich noch nie so vital und lebendig und fähig gefühlt, und doch dachten wir, ich hätte diese schwere Geisteskrankheit ein Leben lang. Wie kann man das verstehen?" Aber in Dr. Roths Büro war Laura von Nostalgie überwältigt: das vertraute Summen der White-Noise Maschine, das Geräusch des Windes, der nach innen gezogen wurde, als Dr. Roth die Haustür öffnete. Sie hatte Dr. Roths Anwesenheit schon immer geliebt - die Art und Weise, wie sie mit gefalteten Beinen in einem Sessel saß und einen großen Becher Kaffee in der Hand hielt, ihre Nägel sauber poliert. Als Dr. Roth in den Wartebereich kam, weinte Laura.

- Ende Part 1 -

Re: Übersicht Zeitspenden: Mitarbeit Willkommen!

Verfasst: 15.04.2019 21:48
von FineFinchen
Fortsetzung

Sie umarmten sich und nahmen dann ihre üblichen Plätze in Dr. Roths Büro ein. Aber Laura sagte, dass Dr. Roth so nervös schien, dass sie während des gesamten Termins redete und die Gespräche, die sie gemeinsam geführt hatten, zusammenfasste. Erst als Laura ging, wurde ihr klar, dass sie nie ihre Fragen gestellt hatte.

Laura startete einen Blog, in dem sie beschrieb, wie sie im Laufe ihrer Krankheit das Gefühl verloren hatte Handlungsspielraum zu haben. Die Leute begannen, sie um Rat zu fragen, wie man mehreren psychiatrischen Medikamenten absetzt. Einige hatten jahrelang versucht, abzusetzen. Sie hatten mühevolle Methoden entwickelt, ihre Medikamente zu reduzieren, wie z.B. die Verwendung von Grassamen-Zählern, um die Anzahl von Kügelchen in den Kapseln zu ermitteln. Laura, die einen Teilzeitjob als wissenschaftliche Assistentin hatte, aber immer noch finanzielle Hilfe von ihren Eltern erhielt, begann vier bis fünf Stunden täglich mit Leuten auf Skype zu kommunizieren. "Die Leute waren so verzweifelt, dass sie, als sie jemanden fanden, der die Medikamente abgesetzt hatte, um Hilfe baten, berichtet Laura.

David Cope, ein ehemaliger Ingenieur der Marine, erzählte mir, dass Lauras Texte "halfen, mich am Leben zu halten. Ich brauchte die Gewissheit, dass jemand anderes das durchgemacht hat und überlebt hat." Während des Entzugs von Paxil (Paroxetin), Ativan (Lorazepam) und Adderall fühlte er sich von emotionalen Reaktionen abgekoppelt, die sich vorher gewohnt angefühlt hatten. "So würde ich es meiner Frau erklären - ich weiß, dass ich sie liebe", sagte er zu mir. "Ich weiß, dass ich mich um sie kümmere. Ich weiß, dass ich mein Leben für sie opfern würde. Aber ich fühle keine Liebe. Es gibt keine gefühlsmäßige und physische Reaktion: das Gefühl des Trostes und der prickelnden Liebe, wenn man die Haare seines Ehepartners riecht - das habe ich nicht."

Angela Peacock, eine 39-jährige Veteranin des Irak-Krieges, sagte mir: "Ich will wie Laura sein." Peacock nahm seit dreizehn Jahren Medikamente ein, darunter auch den "P.T.S.D. Cocktail", wie er inzwischen bekannt ist: das Antidepressivum Effexor (Venlafaxin), das Antipsychotikum Seroquel (Quetiapin) und Prazosin, ein Medikament zur Linderung von Alpträumen. "Ich habe das Trauma, eine 23-jährige Kriegsteilnehmerin zu sein, nie verarbeitet und auch nicht die Auswirkungen auf mein Verständnis von Menschlichkeit", sagte sie. "Ich habe für dreizehn Jahre auf Pause gedrückt."

Laura realisierte, dass sie ihren ganzen Arbeitstag mit diesen Gesprächen verbrachte. Weil sie finanziell selbstständig werden musste, begann sie 75 $ pro Stunde (auf einer abgestuften Skala) zu verlangen, um mit Menschen zu sprechen. Nur wenige Psychiater beschäftigen sich intensiv mit diesen Fragen, so dass ein unübersichtliches Beraterfeld diese Lücke geschlossen hat. Sie tauchen ein in das, was Laura als "die Laien-Entzugsgemeinschaft" bezeichnet, eine Konstellation von Webforen und Facebook-Gruppen, in denen sich Menschen, die ihre psychiatrischen Medikamente absetzen, gegenseitig beraten: Surviving Antidepressants, The International Antidepressant Withdrawal Project, Benzo Buddies, Cymbalta Hurts Worse. Diese Gruppen bieten Anleitungen, wie man Medikamenten langsam reduziert – typischerweise empfehlen sie eine Dosisreduktion um höchstens 10 % pro Monat - und einen Ort, an dem man sich über emotionale Erfahrungen austauschen kann, die keine Namen haben.

Für viele Leute in den Foren war es unmöglich, die biochemischen und sozialen Auswirkungen voneinander zu trennen. Die Medikamente wirkten auf ihren Körper, aber sie veränderten auch ihr Verständnis von Beziehungen und ihren sozialen Rollen und die Kontrolle über Teile ihres Lebens. Ein gemeinsames Thema in den Foren ist, dass die Leute das Gefühl haben, dass sie irgendwann, nach der Einnahme so vieler Medikamente für lange Zeit, geschädigt sein würden - und sie waren sich nicht mehr sicher, ob dies auf ihre zugrundeliegende Erkrankung, den Auswirkungen des Medikamentenentzuges oder den verinnerlichten Gedanken an eine chronische Erkrankung zurückzuführen sei.

Peter Gordon, ein schottischer Psychiater, der seit 25 Jahren für den National Health Service arbeitet, sagte mir, dass er Schwierigkeiten habe, Ärzte zu finden, die ihm bei seinem eigenen Entzug helfen konnten. Er wandte sich an die Online-Communities, von denen er glaubt, dass sie "die Natur des Kräftegleichgewichts zwischen Patient und Arzt verändern". Er nahm seit 21 Jahren aus sozialen Gründen Paxil (Paroxetin) und versuchte mehrmals, mit Hilfe einer Mikropipette eine kleine Dosisreduktion durchzuführen. Es funktionierte nicht. „Jedes Mal“, erzähl er: "änderte sich mein Temperament. Ich bin kein wütender Mensch - ich bin sanftmütig, ich bin liebevoll, ich bin offen - aber im Entzug stellte ich fest, dass diese Eigenschaften zurückgedrängt wurden. Ich war gereizter. Ich war meiner Frau gegenüber sehr kritisch und konzentrierte mich auf Dinge, die mir normalerweise egal waren." Er fährt fort: "Ich persönlich finde es wirklich schwer, diese Erfahrung in Worte zu fassen - und wenn es mir schwer fällt, sie in Worte zu fassen, wie können dann Untersuchungen sie aufzeichnen? Wir sind darauf trainiert, die Faktenbasis als vorrangig zu betrachten - sie ist weltweit die wichtigste Grundlage für die Verschreibung psychischer Medikamente und ich stimme ihr voll und ganz zu - aber diese Faktenbasis kann nie vollständig sein, ohne die ausführlichere (persönliche) Geschichte zu betrachten."

Nach fast fünf Jahren telefonischer Beratung arbeitete Laura mit Rob Wipond und einer Arzthelferin namens Nicole Lamberson zusammen, um einen Online-Guide für Menschen zu erstellen, die ihre Psychopharmaka reduzieren wollten. Es gab bislang nur wenige Informationen. Ende der 90er Jahre hatte Heather Ashton, eine britische Psychopharmakologin, die eine Benzodiazepin-Entzugsklinik in Newcastle geleitet hatte, eine Reihe von Leitlinien, das so genannte Ashton-Handbuch, verfasst, das unter Patienten weit verbreitet ist und individuelle Reduzierungspläne für verschiedene Benzodiazepine sowie ein Glossar mit unspezifischen Symptomen enthält. "Menschen, die schlechte Erfahrungen gemacht haben, wurden in der Regel zu schnell (oft von Ärzten!) und ohne Erklärung der Symptome von Medikamenten entzogen", schrieb Ashton.

Lauras Website, die sie das Withdrawal Project nannte, wurde Anfang 2018 als Teil einer gemeinnützigen Organisation, der Inner Compass Initiative, online veröffentlicht. Die Inner Compass Initiative widmet sich der Unterstützung von Menschen, fundiertere Entscheidungen über psychiatrische Behandlung zu treffen. Sie und Rob (mit dem sie nicht mehr zusammen war) riefen die Initiative mit Hilfe eines Zuschusses einer kleinen Stiftung ins Leben. Durch die Stiftung erhielt Laura genug Geld, um sich selbst ein Gehalt zu zahlen und weitere Personen einzustellen, die sich bereits mit Menschen beraten hatten, Medikamente zu entziehen. Mit ihnen sammelte sie wichtige Erkenntnisse über Tapering-Strategien. " Einzeldarstellungen sind das Wichtigste, was wir haben, denn es gibt fast keine klinische Forschung darüber, wie man langsam und sicher absetzt", sagte Laura. Die Website hilft Menschen im Entzug, Gleichgesinnte in ihrer Stadt zu finden; sie bietet Informationen über die Berechnung des Prozentsatzes des Absetzschrittes, die Umwandlung einer Tablette in eine flüssige Mischung mit einem Mörser und einem Stößel oder die Verwendung spezieller Spritzen zum Messen der Dosisreduzierung. Lamberson, der Mühe hatte, sechs Psychopharmaka abzusetzen, sagte mir: "Du befindest dich in der Position, in der du Küchenchemiker werden musst."

Swapnil Gupta, ein Assistenzprofessorin an der Yale School of Medicine, erzählte mir, dass sie darüber besorgt sei, dass Ärzte dieses Dilemma weitestgehend den Patienten zur Lösung überlassen. Sie und ihre Kollegen haben eine, von ihr als informelle " De-Perscribing " Initiative (Erklärung: eine Initiative, die sich dafür einsetzt, den Entzug zu "verschreiben") initiiert. Sie behandelt regelmäßig Patienten, die - wie Laura - unnötige PP-Kombinationen einnehmen. Dies geschieht aus unterschiedlichen Gründen: Laura betrachtete ihre Therapeuten als Gurus, die ihre Probleme lösen würden; während arme oder benachteiligte Patienten beim Wechsel von einer Notaufnahme in die andere überbehandelt werden. Als Gupta, die in einer Ambulanz arbeitet, ihren Patienten jedoch den Vorschlag macht, die Medikamente zu entziehen, sah sie sich damit konfrontiert, dass einige der Patienten "befürchteten, dass sie ihre Invaliditätsleistungen verlieren, weil die Einnahme vieler Medikamente zu einem Aushängeschild für Krankheiten geworden ist. Ohne Medikamente erleiden die Betroffenen einen Identitätsverlust, erfahren eine andere Lebensweise. Plötzlich ist alles, was du tust, deins - und nicht zwangsläufig das deiner Medikamente."

Auch Gupta versucht, ihre Sichtweise auf das emotionale Leben ihrer Patienten neu auszurichten. "Wir tendieren dazu, die Patienten zeitlich limitiert wahrzunehmen - eben so, wie sie zu dem Zeitpunkt sind, in dem wir sie sehen. Wir nehmen sie nicht im Ganzen wahr, als Menschen, die Höhen und Tiefen haben, wie wir alle - und es kann wirklich beunruhigend sein, wenn sie plötzlich sagen: "Schau, ich weine. Gib mir meine Medikamente zurück." Gupta erzählt, "Ich muss sie beruhigen und ihnen versichern: "Es ist in Ordnung, wenn man weint - normale Leute weinen.“ Erst heute fragte mich jemand: "Weinen Sie? Und ich sagte: "Ja, das tue ich. ”

im Herbst 2018, wenige Tage nach Thanksgiving, schrieb mir Lauras Schwester Nina eine Nachricht: "10 Jahre auf den Tag genau, hat Laura einige Neuigkeiten für dich, die ein tolles Ende deiner Geschichte sein könnten."

Im Vorjahr war Laura nach Hartford gezogen, um in der Nähe ihres neuen Freundes Cooper Davis und seines vierjährigen Sohnes zu wohnen. Jetzt waren sie gerade von einem Urlaub bei ihrer Familie in Maine zurückgekehrt. Laura stand in der Küche ihrer Wohnung im zweiten Stock und erzählte Cooper, dass Holz und dünne Plastikgeschirrteile nicht in die Geschirrspülmaschine gehörten. Er fragt nach verschiedenen anderen Haushaltsgegenständen, ob diese für die Spülmaschine geeignet seien, bevor er meinte, dass er eine letzte Frage hätte. Er zog einen Verlobungsring aus der Tasche. Cooper hatte mehrere Wochen lang geplant, ihr einen Antrag zu machen. Er hatte nicht gewusst, dass der von ihm gewählte Moment genau ein Jahrzehnt nach ihrem Selbstmordversuch war.

Laura hatte Cooper, der in einer Agentur arbeitet, die Menschen mit psychiatrischen und Suchtgeschichten unterstützt, zwei Jahre zuvor auf einer Konferenz in Connecticut getroffen. Cooper erhielt seit seinem 17. Lebensjahr Adderall aufgrund von ADHS und war süchtig geworden. Als Jugendlicher, so erzählt er, wurde ihm beigebracht zu glauben: "Ich bin nicht für diese Welt geschaffen. Ich muss optimiert werden, ich muss mich anpassen."

Aufgrund seiner Arbeit war es Cooper gewohnt, dass Menschen in verschiedenen emotionalen Krisenzuständen oft in der Nähe von Laura sein wollen. Wenige Monate nach ihrer Verlobung flog Bianca Gutman, eine 23-jährige aus Montreal, nach Hartford, um das Wochenende mit Laura zu verbringen. Biancas Mutter, Susan, hatte Lauras Blog zwei Jahre zuvor entdeckt und ihr sofort eine E-Mail geschickt. "Ich fühle mich, als würde ich die Geschichte meiner Tochter lesen", schrieb sie. Susan bezahlte Laura für Skype-Gespräche, bis Laura ihr sagte, sie solle aufhören. Laura war auf Bianca, bei der mit zwölf Jahren Depressionen diagnostiziert worden waren, aufmerksam geworden und betrachtete als eine kleine Schwester, die ähnliche Probleme durchlebte, wie sie einst selbst.

Während Bianca zu Besuch war, war eine Bekannte von außerhalb inmitten einer scheinbar manischen Episode. Sie war in einem kleinen Hotel, nur wenige Häuser von Laura entfernt.Laura nahm Telefonanrufe von den engen Freunden der Frau entgegen, die wissen wollten, was getan werden sollte, aber das Einzige, was Laura mit guten Gewissen riet, war, dass die Frau etwas Schlaf finden sollte und keine wichtigen Lebensentscheidungen treffen sollte . Medikamente hatte sie bei sich. Die Frau war einige Jahre zuvor durch einen Krankenhausaufenthalt traumatisiert worden, und Laura vermutete, dass "sie hierher kam, weil sie nicht allein sein wollte und weil sie weiß, dass ich nie die Polizei rufen würde."

Laura und Bianca verbrachten das Wochenende bei frischem Wetter mit Spaziergängen und gemütlichen Gesprächen in Lauras kleinem Wohnzimmer. Bianca, die kaum fünf Fuß groß ist, bewegte sich und sprach langsamer als Laura, als ob viel mehr Entscheidungen nötig wären, bevor sie einen Gedanken in Worte umwandelte. Sie hatte fast neun Jahre lang 40 mg Lexapro (Escitalopram) genommen - die doppelte empfohlene Dosis. Sie hatte sechs Jahre lang Abilify genommen. Nun, nach einem Gespräch mit Laura, hatte Biancas Vater, ein Notfallarzt, in Montreal eine Apotheke gefunden, die in der Lage war, ihr Medikament in immer kleineren Dosierungen herzustellen – monatlich um ein mg weniger. Bianca, die als Assistentin an einer Grundschule arbeitete, war nur noch bei fünf Milligramm Lexapro (Escitalopram). Ihre Mutter erzählt: "Ich sage Bianca oft: "Ich sehe, dass du dich besser zurechtfindest", und sie sagt: "Beruhige dich, Mami. Es ist nicht so, dass das Absetzen der Medikamente mich zu einem weißen Blatt machen und Du die Tochter bekommst, die du vorher hattest" "- die Hoffnung, die sie hegte, seit Bianca zum ersten Mal Medikamente nahm.

Bianca, die rötlich-blondes Haar hatte, das sie in einen unordentlichen Zopf zusammengefasst hatte, trug einen unförmig großen Rollkragenpullover. Sie saß auf der Couch, wobei ihre Beine ordentlich in eine Z-Position geknickt waren - eine Position, über die sie später scherzte, weil sie sich dadurch erwachsener fühlte. Wie Laura hatte auch Bianca es immer wieder begrüßt, wenn ihre Psychiater die Dosis ihrer Medikamente erhöhten. Sie sagte: "Es war, als ob sie genau zu meinem Schmerz passen würden".

Bianca beschreibt ihre Depression als " sinnlosen Schmerz ". Es ist so formlos und trüb. Es weicht jeder Sprache aus." Sie erzählt, wie sie das Gefühl hatte von Laura verstanden zu werden - was an der Art lag, wie Laura "Mm-hmm" machte. "Ich hatte mich seit langer Zeit nicht mehr hoffnungsvoll gefühlt". Hoffnungsvoll worüber? "Ich weiß es nicht. Nur hoffnungsvoll", denke ich, weil ich diese Verbindung mit jemandem gespürt habe." Sie sagte zu Laura: "Zu wissen, dass du verstehst, dass es keine Worte gibt - das reicht mir."

Auf meine Bitte hin hatte Laura mehrere Alben mit Kinderfotos ausgegraben, und wir drei saßen auf dem Boden und schauten sie durch. Von Jahr zu Jahr sah Laura total anders aus. Sie hatte eine Phase gehabt, in der sie pastellfarbene Poloshirts trug, die zu klein für sie waren. Aus dieser Zeit schauten wir ein Gruppenfoto an, das Laura inmitten ihrer Freunde zeigte. Es war nicht nur, dass Laura dicker oder dünner war, ihr Gesicht schien vvielmehr anders zu sein. Auf ihren Debütantinnen-Fotos sah sie aus, als würde sie die Gesichtszüge eines anderen tragen. Bianca sagte immer wieder: "Ich sehe dich nicht."

Seit ich Laura kenne, hatte sie immer einen gewissen Glanz, aber an diesem Tag strahlte sie. Neuerdings interessierte sie sich für Mode und trug eine Hose aus Schweden mit einem versteckten T-Shirt, das ihre Taille betonte. Als Cooper nach einem Nachmittag mit seiner Familie ins Haus zurückkehrte, rief sie aus: "Oh, Cooper ist zurück!" Dann wurde sie unsicher und lachte sich selbst aus.

Ich erzählte Laura, dass ich vorsichtig war, das Empfinden ihrer Schwester zu wiederholen, dass die Ehe das Ende ihrer Geschichte sei. Sie stimmte zu. "Es ist nicht so, als wäre Laura endlich angekommen", sagt sie. "Wenn überhaupt, dann haben diese Fallen - oder wie immer man sie nennen will (vielleicht Leben?) - die Dinge für mich beängstigender gemacht." Laura fühlt sich immer noch überfordert von den Aufgaben des täglichen Lebens, wie z.B. zu viele E-Mails, die sich ansammelten und sie weinte etwa fünfmal pro Woche. Sie ist empfindlich. Sie lässt Situationen eskalieren. Cooper sagte, dass er dazu neigt, in Spannnungsmomenten ganz ruhig zu werden, wodurch Lauras Angst, dass sie nicht wahrgenommen wird, noch verschärft wird. Sie ist nicht in Therapie - Therapeuten - sie fühlt sich erschöpft von den Jahren der Analyse ihrer intimsten Gedanken - aber sie sagt: "Wenn ich tatsächlich vor einem Psychiater säße und er eine Einschätzung mache, würde ich die Kriterien für eine Reihe von Diagnosen voll erfüllen". Aber der diagnostische Rahmen ist für sie nicht mehr wichtig.

Vielleicht haben wir alle eine scheußliche Version von uns selbst in uns und wir stellen uns in unseren schlimmsten Momenten vor, dass wir zu dieser hässlichen Version geworden sind. Als Bianca ohne Hoffnung war, dachte sie spöttisch: Das bist du. Wie könntest du anders von Dir denken denken, du armes Ding?

Lauras Gedanke war: "Du bist keine ehrliche Person. Du verdienst es nicht, hier zu sein." Während vieler unserer Gespräche versuchte sie, ihre Gedanken zu ignorieren, erzählte mir Laura. "Was glaubst du, wer du bist, wenn du mit diesem Journalisten sprichst? Halt die Klappe und verschwinde." - so ihre Gedanken. Laura meint: "Und doch führen wir auch dieses Gespräch und ich bin dabei völlig präsent."
Bianca sagte: "Es ist, als ob deine Dunkelheit immer noch da ist, aber es ist fast so, als ob sie neben dir wäre, im Gegensatz zu der Gesamtheit deines Seins."

Laura stimmte zu, dass sie "den Reichtum des Lebendigseins" erlebt, von dem ich einfach keine Ahnung hatte, dass es für mich das Richtige ist". "Aber", sagt sie, "es ist nicht so, als wäre ich schon bereit zu gehen. Buchstäblich jeden Tag frage ich mich immer noch, wie man in dieser Welt erwachsen wird."

Re: Artikel New Yorker: Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Verfasst: 27.04.2019 15:07
von Smilla
Hallo Finchen,

DANKE für die unglaublich lange Übersetzung, die ebenso komplex wie anschaulich ist.

Mich wundert daran am meisten, wie schnell die Protagonistin ihre Ansammlung von PP (UFF! :shock: :o :cry: ) wieder loswurde, ohne daran komplett in die Knie zu gehen.

LG Smilla

Re: Artikel New Yorker: Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Verfasst: 30.04.2019 11:02
von Juna
Hallo Finchen,

DANKE!!!!!

Die Übersetzung ist meeeega, man kann die Emotionen, Gefühle und Blickwinkel wahrnehmen, Respekt!

LG
Juna

Brr, und Dein Ende von Part 1 ist auch.... Passend gewählt, ich bin gespannt und... Sprachlos, wie es weitergeht.

Re: Artikel New Yorker: Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Verfasst: 30.04.2019 12:43
von FineFinchen
Hallo Juna,

danke Dir. Mir gings ähnlich wie Dir, als ich in der Geschichte steckte, konnte ich kaum aufhören, weil ich immer wissen wollte, wie es weitergeht. So wuchs die Übersetzung Nacht für Nacht, Absatz um Absatz.

Hab's mir selbst verkniffen, erst alles auf Englisch zu lesen. :)

Ich freue mich sehr, dass Dir/Euch der übersetzte Artikel gefällt und wünsche viel Spannung beim Weiterlesen.

Viele Grüße
Finchen

Re: Artikel New Yorker: Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Verfasst: 05.09.2019 16:14
von Lithium30Jahre+
Hallo Finchen,

auch vielen, vielen Dank :party2: von meiner Seite! Der Artikel ist sehr authentisch und wiederspiegelt die Realität der Handhabe von Psychopharmaka. Schlimm ist, dass viele psychiatrische Selbsthilfeeinrichtungen bzw. psychiatrieerfahrene Gruppen oft im Zusammenschluss mit der Sozialpsychiatrie weit weg von einer pharmakritisch Einstellung sind - das ist zu mindestens mein Eindruck.

Stehe selbst mit meiner Challenge Lithium allein auf weiter Flur und auch mein neuer Psychiater - welchen ich persönlich ein wenig kenne - unterstützt mich nur halbherzig. Die Überlegung eine bipolare Selbsthilfegruppe zu gründen sehe ich auch zweischneidig und frage mich ob es nicht sinnvoller ist meine Zeit ausschließlich meinem gesunden Umfeld zu widmen.

Neben meiner Aktivität in kritischen Foren war dein Artikel auch eine Anregung meine Erfahrungen (wie Laura) gegen einen Wertschätzungsbeitrag anzubieten.

Nochmals danke - herzliche Grüße :)
Lithi

Re: Artikel New Yorker: Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Verfasst: 09.10.2019 12:45
von Riot
Wow. Einfach nur danke für diese Mühe von dir, diesen langen Text zu übersetzen!

Re: Artikel New Yorker: Die Herausforderung, Psychopharmaka abzusetzen

Verfasst: 18.07.2020 00:24
von stubi
Hallo liebe Fine Finchen,

ich bin einfach beeindruckt von deiner Leistung.

Vielen lieben Dank. <3

Liebe Grüße
Renate