Forscher führt Studie zum Entzug von Antidepressiva durch
von Justin Karter, 03. August 2016
Tony Kendrick, Professor für medizinische Grundversorgung an der Universität von Southampton, hat durch seine Forschung und Praxis festgestellt, daß zu vielen Menschen langfristig Antidepressiva verschrieben werden, ohne die nötige Aufklärung und Unterstützung, um von ihnen wieder loszukommen. In diesem MIA Interview bespricht Kendrick die neue Studie, die er leitet. Dies Studie soll dazu beitragen, sicherer Absetzstrategien für Menschen zu entwickeln, die ihre Antidepressiva absetzen wollen.
Was weckte Ihr Interesse an dieser Arbeit ?
Ich bin ursprünglich Arzt für Allgemeinmedizin, wenngleich ich für nunmehr seit fast 30 Jahren als Wissenschaftler tätig bin. In Großbritannien, so auch in anderen westlichen Ländern wie den USA, hat die Verschreibung von Antidepressiva Jahr für Jahr mit einer konstanten Rate immer mehr zugenommen, seit die SSRI's in den späten 80er und frühen 90er Jahren auf den Markt kamen. Wir haben eine Verdoppelung der Antidepressiva in den letzten 10 Jahren erkannt, und wir haben mit unserer bisherigen Arbeit versucht herauszufinden, warum dies der Fall ist.
Immerhin fanden wir heraus, daß es in Großbritannien keinen großen Anstieg in der Häufigkeit von Depressionen gegeben hat. Es gab zwar eine kleine Zunahme nach der Finanzkrise 2008, aber in den nächsten 5 Jahren bis 2013 stiegen Depressionen nur um etwa 4% an, während die Verschreibung von Antidepressiva um 48 % zunahm. Es ist also nicht so, daß wir jedes Jahr mehr Menschen diagnostizieren. Wir stellen ständig bei etwa 1 % der Bevölkerung jedes Jahr neue Fälle von Depression fest und bei etwa 3,5 – 4 % der Menschen Depression insgesamt. Dies blieb ziemlich unverändert, doch was zugenommen hat, ist die Dauer der Behandlung. Die durchschnittliche Behandlungsdauer hat sich innerhalb von 10 Jahren verdoppelt, und das ist es, was die Verdoppelung in der Anzahl der Verschreibungen ausmacht.
Die Verschreibungen liegen im Schnitt bei einer pro Monat, manchmal zwei, wenn also Menschen doppelt so lange behandelt werden, erhalten sie doppelt so viele Verschreibungen, und dies erklärt, wie mehr als 50 bis 60 Millionen Antidepressiva jedes Jahr allein in England verschrieben werden, das nur eine Bevölkerungszahl von 50 Millionen hat. Es stellt sich bei Umfragen heraus, daß etwa 11 % der Erwachsenen ein Antidepressivum nehmen. Die Zahlen sind in den USA ähnlich, und Sie erhalten vergleichbare Zahlen in Australien, Neuseeland und vielen europäischen Ländern.
Damit nimmt mehr als 1 von 10 Menschen Antidepressiva ein, und dies überrascht uns als Forscher, weil wir nicht davon ausgehen, daß empirisch zu belegen ist, daß so viele Menschen behandelt werden müssen. Es liegt nah an der Häufigkeit des Gebrauchs von Statinen oder Bluthochdruckmitteln, doch viele Menschen, immerhin die Hälfte derjenigen, die unter Depressionen leiden, haben nur eine Episode, die mit der Zeit nachlässt. Es scheint also falsch zu sein, daß so viele Menschen langfristig Antidepressiva einnehmen sollten. Die mittlere Dauer der Einnahme liegt derzeit bei etwa 2 Jahren; das bedeutet, daß mehr als die Hälfte der Leute, die Antidepressiva einnehmen, diese länger als 2 Jahre nehmen, und üblicherweise nehmen viele über 5 bis 6 Jahre Antidepressiva ein. Dies variiert ein wenig mit dem demographischen Faktor. Wenn man z.B. Frauen im gebärfähigen Alter aus sozial benachteiligten Schichten betrachtet, nimmt nahezu 1 von 5 Antidepressiva, fast 17 %.
Es gibt also eine furchtbare Menge von Verschreibungen, und die Frage ist: Brauchen die Leute wirklich Antidepressiva ? Wir haben uns dies angeschaut und Umfragen unter Langzeitnutzern von Antidepressiva durchgeführt, und etwa zwischen 1/3 und 1/2 haben keine eindeutige
evidenzbasierte Indikation, um in einer Langzeitbehandlung zu sein. Es ist häufig die erste Episode, die sie länger in Behandlung bleiben lässt; sie haben keine Historie von wiederkehrenden Rückfällen, es gibt nicht viele Risikofaktoren für einen weiteren Rückfall, und sie haben nicht
unbedingt eine Menge von Problemen in ihrem Leben, die sie zu einer längeren Einnahme veranlassen könnten. Stattdessen scheinen sie fast standardmäßig bei der Einnahme zu bleiben.
Es entsteht ganz allgemein die Situation, daß Patienten versuchen, die Einnahme von Antidepressiva alleine zu beenden, und sie erleiden Entzugssymptome, die Angst und Stimmungsschwankungen beinhalten. Dabei kommt ihnen der Gedanke, daß sie wieder in den depressiven Zustand zurückfallen, und sie nehmen ihre Medikation wieder auf. So ergab sich der Anstoß für diese Studie aus unserer früheren Forschung zur übermäßigen Verschreibung von Antidepressiva und der klinischen Realität, daß viele Menschen darum kämpfen, diese Medikamente abzusetzen.
Können Sie uns durch die Studie führen, die Sie entwickelt haben ? Welches sind einige der Schwierigkeiten, die beim Entwurf einer RCT (=randomisierte kontrollierte Studie) zur Untersuchung des Problems auftreten ? Welches sind die Einschlusskriterien, und welche Unterstützung wird den Teilnehmern zur Verfügung gestellt ?
Die Einschlusskriterien (in groben Zügen): Menschen, die Antidepressiva genommen haben, nicht nur SSRI's, die bei Depression oder Angst und Depression vermischt verabreicht werden, Menschen Antidepressiva für eine erste Episode länger als ein Jahr oder für eine wiederkehrende Episode länger als zwei Jahre genommen haben, und die ihre Antidepressiva absetzen wollen. Wenn sie sich nicht sicher sind, davon loszukommen, müssen wir natürlich mit ihnen darüber sprechen, warum sie die Medikamente absetzen möchten, aber es muß ihnen überlassen bleiben.
Wir schließen Menschen mit einer Historie wiederkehrender Depression, die zu Rückfällen führt (mehr als zwei vorausgehende Episoden) aus, des weiteren solche, die andauernde Risikofaktoren haben, Lebensereignisse und Schwierigkeiten in ihrem Leben, die die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall nahelegen, solche in psychiatrischer Betreuung und solche mit der Historie einer psychiatrischen Begleiterkrankung. Ansonsten sind wir glücklich, mit ihnen zu arbeiten.
Das Ziel ist wirklich, ihre vorhandenen Mediziner, die Doktoren und Schwestern, die sich um sie kümmern, zu unterstützen. In unserem Land ist es schwierig, regelmäßig Termine zu bekommen, weil ein großer Druck auf dem System lastet. Und in den USA ist es, selbst wenn man eine Ver-
sicherung hat, problematisch, so viele Termine zu bekommen, wie man sie während des Entzugsprozesses haben möchte oder braucht.
Wir werden eine spezielle Software benutzen, entwickelt mit einem Programm, welches LifeGuide heißt. LifeGuide wurde an der Universität von Southampton entwickelt; es ist eine interaktive Software, entworfen um Selbstfürsorge zu unterstützen. Es wurde bereits für eine Reihe von Leiden, inklusive Fettleibigkeit, Rückenschmerzen, Erschöpfung und Schwindel genutzt. Das Programm ist wandlungsfähig und kann von den Forschern angepasst werden, um dem Bedarf des jeweiligen Eingreifens zu entsprechen.
Im Laufe der nächsten zwei Jahre planen wir, dieses Programm dafür zu nutzen, eine spezielle Online-Unterstützung für Menschen zu entwickeln, die von ihren Antidepressiva loskommen möchten. Die Leute werden sich also einloggen, sie werden Informationen über ihre Situation eingeben, über die medikamentöse Behandlung, die sie erfahren haben, und was sie zu tun versuchen, und auf welche Weise sie gerne absetzen möchten. Ihnen wird individuell geantwortet werden, basierend auf den von ihnen erteilten Informationen. Auf diese Weise werden sie einige Hilfe erhalten, die aber nicht die einzige sein wird. Sie müssen selbstverständlich zur Unterstützung ihren Doktor oder ihre Schwester aufsuchen, jedoch nicht so häufig, wie wenn sie nicht den Online-Beistand hätten, und wir werden den jeweiligen Hausärzten und Krankenschwestern Informationen über den Entzug geben und sie durch diese Studie unterstützen.
Ihnen wird auch während der Arbeitszeit eine Telefonleitung zu einem Gesundheitshelfer (= Erstversorgung/psychische Gesundheit) zur Verfügung stehen. Dies ist in der Regel ein Diplompsychologe, der eine Ausbildung in CBT (= kognitive Verhaltenstherapie) hat und ihnen ebenfalls einige Hilfen geben kann. Die vierte Stütze ist „buddying“, Begleitung durch jemand, der Antidepressiva bereits absetzen konnte, ein medizinischer Laie und ein Mitpatient. Dies hat sich bewährt bei Alkohol, Rauchen und Benzodiazepinen und kann sich auch bei Antidepressiva bewähren. Es ist also ein komplexes Paket, das wir entwickeln. Wir werden kein Gruppensystem für das Absetzen der Antidepressiva haben, dem sich jeder anschließen wird. Es ist individualisiert und zugeschnitten auf den Patienten.
Welche Ergebnisse erwarten Sie und Ihr Team ?
Die wesentlichen Ergebnisse sind depressive Symptome und der Wegfall der Antidepressiva. Wir wollen in der Interventionsgruppe verglichen mit der Kontrollgruppe, die die übliche Versorgung erhält, eine Nichtunterlegenheit der depressiven Symptome erreichen, keine Verschlechterung der Depression. Das Ziel ist, den Menschen dabei zu helfen, von den Antidepressiva loszukommen, selbstverständlich ohne sie depressiv werden zu lassen.
Das grundlegende Ergebnis wird in 6 Monaten gemessen werden, aber wir werden die depressive Symptomatik häufiger beurteilen, nämlich alle 6 Wochen. Wir werden den PHQ2 (= ein aus 2 Fragen bestehender psychodiagnostischer Text für ein Screening einer Major Depression) jede Woche und den PHQ9 alle 6 Wochen durchführen, um die Depression zu messen, und wenn der PHQ2 positiv in Bezug auf depressive Symptome sein sollte, wird dies ein Gespräch mit dem Gesundheitshelfer auslösen, um eine Entscheidung darüber zu treffen, ob der Teilnehmer seinen Arzt aufzusuchen sollte.
Die Entwöhnung wird an dem Verhältnis der Menschen gemessen werden, die mit der Einnahme der Antidepressiva während der Studie aufhören. Wir hoffen, daß mindestens 20 % dazu in der Lage sein werden, verglichen mit etwa 7 %, die dies bei üblicher Versorgung im Laufe eines einzelnen Jahres erreichen.
Während viele medizinische Richtlinien den Kurzzeitgebrauch von Antidepressiva nahelegen, hat es den Anschein, daß nicht gerade viel Anleitung vorhanden ist, wenn es darum geht, daß Patienten davon loskommen wollen. Was haben Sie in der Literatur bezüglich der Geschwindigkeit und Protokollen zum Absetzen von Antidepressiva gefunden ?
Sie haben Recht, die Richtlinien sprechen dies wirklich nicht an, wir haben keine eindeutige Anleitung gefunden. Aber, um dies klar auszudrücken, was wir den Menschen nahelegen, ist dies: Wenn man Antidepressiva für ein paar Wochen eingenommen hat, dauert es Tage, um von ihnen loszukommen; wenn die Einnahme ein paar Monate erfolgte, wird es einige Wochen dauern, sie anbzusetzen; und wenn man sie ein paar Jahre genommen hat, wird man Monate brauchen, um davon wegzukommen. Dies schafft eine Erwartung, die zu verhindern hilft, sie zu kurzfristig abzusetzen.
Zudem unterscheiden sich die Absetzverfahren bei Antidepressiva, und einige machen mehr Probleme als andere. Fluoxetin mit einer langen Halbwertzeit neigt nicht dazu, genauso viel Probleme zu bereiten, wenn man langsam damit aufhört, und man kann zur flüssigen Form übergehen, um die Dosierung in Schritten zu senken. Paroxetin andererseits hat eine kurze Halbwertzeit, und das kann eine Menge Probleme verursachen. Wir verschreiben hier heutzutage wirklich nicht mehr viel Paroxetin. Citalopram und Sertralin liegen wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Es variiert also je nach Medikament, es variiert mit dem Einzelnen, und man muss darauf vorbereitet sein, sie langsam auszuschleichen und die Patienten dabei überwachen.
Wir sind dabei, durch eine systematische Literaturprüfung auf alle relevanten Studien zu schauen, aber die Protokoll-Expertin im Team ist Joanna Moncrieff. Joanna ist Psychiaterin am University College London, und sie wird uns in Absetzverläufen beraten. Aber was ich zu diesen Verläufen sagen möchte ist, daß sie sehr flexibel sein müssen. Manchmal kommen sie mit einem Patienten keinen Schritt voran und der Absetzplan mmuss daher überarbeitet werden, weil der Patient dem Verlauf, den sie gemeinsam zusammengestellt haben, nicht mehr folgen kann.
Ich denke, es werden sich Erprobung und Irrtum gegenüberstehen, da es gerade erst der Anfang dieser Studienreihe ist.
Was sind die Erfahrungsberichte der Betroffenen zum Entzug von Antidepressiva ?
In der Literatur haben Forscher unterstellt, daß die Antidepressiva-Entzugssymptome vorübergehend seien, daß sie nur kurz andauerten, daß sie in einigen Tagen oder Wochen vorbei sein sollten, doch es gibt tatsächlich ziemlich viele Aussagen von Menschen, die lange Zeit Antidepressiva genommen haben, daß bei ihnen Symptome aufgetreten sind, die Monate oder manchmal sogar Jahre andauern. Dies wird in erster Linie von Betroffenengruppen berichtet, wie
Surviving Antidepressant und der britischen Lobby-Gruppe Council for Evidence Based Psychiatrie (
CEP).
Diese Gruppen sind wirklich hilfreich darin, Fallstudien von Menschen zusammenzutragen, die eine harte Zeit haben, ihre Antidepressiva abzusetzen.
Wir haben einige qualitative Arbeiten mit Leuten durchgeführt, die einige Jahre Antidepressiva nahmen, und wir stellten fest, daß viele sehr verunsichert waren, was sie tun sollten und gemischte Gefühle hatten, die Medikamenten abzusetzen. Als ihre Ärzte ihnen erstmals das Antidepressivum verschrieben, hatten sie ihnen oft gesagt: „Sie brauchen dies, weil Sie einen Serotoninmangel haben, und Sie müssen Ihren Serotoninspiegel wieder aufbauen.“ Daher gingen sie selbst davon aus, diesen Mangel zu haben, was logischerweise zu der Annahme führte, daß sie ihr Antidepressivum immer nehmen müssten.
Diese sehr vereinfachende Sicht wurde gefördert und angetrieben durch die Arzneimittelfirmen, und wir (praktischen) Ärzte haben es dummerweise zu verantworten, daß diese Botschaft so weitergegeben wurde, die bei den Menschen den Eindruck erweckte, daß sie Antidepressiva ihr Leben lang einnehmen müssten. - Vergleichbare Arbeit wurde in den Niederlanden übrigens von Rhona Eveleigh erbracht, die auf diesem Gebiet promovierte. Sie machte qualitative Studien und stelle fest, daß die Art und Weise, wie die Ärzte die SSRI's präsentierten, dahin tendierte, die Menschen glauben zu machen, daß sie für eine lange Zeit Antidepressiva einnehmenmüssten, wenn nicht für immer.
In unseren Gesprächen teilten uns die Menschen auch mit, daß sie in Ermangelung umfassender Aufklärung durch ihre Ärzte einfach davon ausgingen, daß sie mit dieser Medikation fortfahren sollten. Die Ärzte haben diese Medikamente ohne weitere Kontrolle oft für ein oder zwei Jahre verschrieben, wohingegen die Richtlinien empfehlen, diese Patienten alle 2 Monate wieder einzubestellen. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß hier auf dem Gesundheitssystem ein großer Druck lastet. Doch die bequemste Art der Rückzugsposition scheint zu sein, Menschen auf Antidepressiva zu parken und dann ja nicht die etwas schwierige Frage anzugehen, wie man davon wieder loskommt.
Können Sie auf den Unterschied zwischen Entzug und Rückfall eingehen ?
Ich denke, das ist manchmal ziemlich kompliziert, aber es geht um eine Reihe von Symptomen, die Auswirkungen auf die Funktionsweise (edit: hier geht es wohl um die Alltagskompatibilität) und natürlich um die Dauer der Symptome. Wir arbeiten mit Dee Mangin von der Universität von Otago, Neuseeland, zusammen, die eine placebokontrollierte Studie über den Entzug von Antidepressiva (edit: Fluoxetine) durchgeführt hat. Sie hat ein Protokoll dieser Studie erstellt, das diese Faktoren beleuchtet und ist recht erfolgreich darin, zwischen Entzug und Depression zu differenzieren.
In ihrer Studie war sie sich bewußt, daß die Hälfte der Patienten weiterhin das Medikament und die andere Hälfte ein Placebo bekamen, und daher konnten sie tatsächlich nicht im Entzug sein, solange sie weiter das aktive Antidepressivum erhielten, deshalb war dies eine Art Goldstandard. Durch deren Protokoll war es möglich, den Unterschied zwischen Entzug und Depression aufzuzeigen. Dies wurde bislang nicht veröffentlicht, aber es wird bald geschehen.
Giovanni Fava unterstellt in seiner Arbeit, daß manche medikamentinduzierte Veränderungen im Gehirn ab einem bestimmten Punkt irreversibel sein könnten, und daß dies zu langwierigen Entzugssymptomen führen kann. Erwarten Sie, daß diese Unfähigkeit eines erfolgreichen Entzugs nach Langzeiteinnahme Auswirkungen auf ihre Ergebnisse haben wird ?
Dies entspricht nicht meiner Kenntnis, aber ich wäre nicht überrascht, wenn dies in Anbetracht der Krankengeschichten, die sich aus den Nutzererfahrungen ergeben, der Fall wäre. Luke Montagu vom CEP wird Ihnen erzählen, daß einige seiner Probleme wirklich dauerhaft gewesen sind. Wir haben hier im britischen Parlament kürzlich eine Ausschußanhörung abgehalten, in die das CEP und Luke Montagu eingebunden waren und Robert Whitaker zu einigen der neurologischen Anhaltspunkte für diese These Stellung nahm. Ich bin mir sicher, daß es Menschen gibt, die nicht in der Lage sind, ihre Antidepressiva abzusetzen, und daß dies eines der Ergebnisse dieser Studie sein wird.
Es hat ein Hin und Her darüber gegeben, ob man dieses Phänomen als Absetzerscheinungen oder Entzugssymptome einordnen sollte. Was ist Ihre Einschätzung zu dieser Streitfrage ?
Siehe Kommentar zum folgenden Abschnitt hier
http://adfd.org/austausch/viewtopic.php ... 24#p159624
Ja, ich denke, es gibt da ein semantisches Problem, weil die Patienten uns oft fragen, ob Antidepressiva süchtig/abhängig machen, und während die offizielle Antwort hierauf „nein“ lautet, könnte dies eine etwas zu formale Antwort sein, und ich glaube, dies ist nicht ganz ehrlich. Die Antwort muss lauten, nein, sie sind nicht Sucht erzeugend, weil sie nur einige Suchtelemente aufweisen. Sie verursachen z.B. Entzugssymptome und psychische Abhängigkeit, aber sie führen nach unserer Einschätzung nicht zu physischer Abhängigkeit (mit anderen Worten, es gibt keine körperlichen Veränderungen, die einen Ausgleich durch solche Medikamente erfordern würden), und es gibt keinen Beweis für eine Toleranz (man braucht die Dosierung nicht zu erhöhen), und es ist umstritten, ob sie einen Suchtdruck auslösen.
Weil sie also nur einige Suchtmerkmale aufweisen, und weil Entzugssymptome für sich allein keine Sucht/Abhängigkeit ausmachen, ist die formale Antwort „nein“, aber ich denke, das ist etwas vordergründig. Wenn ausreichend Entzugssymptome auftreten, man das Gefühl hat, das Medikament zu vermissen und es wieder einnehmen zu wollen, so ist das nach meiner Einschätzung ziemlich nah an einer Sucht. Daher meine ich, es ist ein semantischer Unterschied, aber per saldo würde ich sagen, den Terminus „Entzugssymptome“ zu gebrauchen ist präziser als den Begriff „Absetzerscheinungen“.
Es gibt immer mehr Forschungsarbeiten, die Antidepressiva in Zusammenhang bringt mit Unruhezuständen/Erregung, Akathisie und impulsivem, ja sogar kriminellem Verhalten, besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Einige behaupten, daß die größten Risiken für diese Folgen während Zeiten der raschen Veränderung auftreten, wie etwa bei einer erhöhten Dosis, einem neuen Antidepressivum oder einem plötzlichen Entzug des Medikaments durch abruptes Absetzen. Wie haben Sie diese Forschung und ihre Auswirkung in Ihrer Studie berücksichtigt ?
Ich bin mir natürlich bewußt, daß es, wenn Leute mit der Einnahme eines SSRI beginnen, egal ob es sich um eine neue Verschreibung handelt oder sie von einem auf ein anderes umsteigen, eine Phase gibt, in der ein erhöhtes Risiko für impulsives Verhalten, sowohl zerstörerisches als auch selbstzerstörerisches Verhalten, einhergehend mit Angstgefühl, besteht. Insbesondere wenn die Menschen bereits davor Angst haben, mit der Medikation zu beginnen, raten wir den Ärzten, mit niedriger Dosierung zu starten und behutsam zu steigern. Wir sind uns also dieses Phänomens bewußt, insbesondere bei jüngeren Patieten. Obwohl mir zu dieser Thematik in Zusammenhang mit dem Entzug nicht genügend Erkenntnisse vorliegen, wäre ich nicht überrascht zu erfahren, daß Menschen Angst bekommen und hierdurch impulsiver werden können.