Neue Studie untersucht die Patientenerfahrungen beim Absetzen von Psychopharmaka
Forscher stellen fest, dass Unterstützung und Selbstfürsorge für Patienten beim Absetzen von Psychopharmaka hilfreich seien.
Von Peter Simons
26. Juli 2017
Eine neue, soeben in „Psychiatric Services“ veröffentlichte Studie untersuchte die Patientenerfahrungen beim Absetzen von Psychopharmaka. Die Forscher fanden heraus, dass Haus- und Fachärzte beim Absetzen wenig hilfreich seien, wenngleich das Ausschleichen von Psychopharmaka durchaus möglich sei.
Die Studie wurde von Laysha Ostrow, PhD, CEO of Live & Learn, Inc. geleitet.
Sie schreibt:
- „Trotz zahlreicher Hindernisse und schwerer Absetzsymptome können Langzeit-Nutzer die Einnahme von Psychopharmaka beenden, wenn sie sich dafür entscheiden. Patienten berichten, dass Selbstfürsorge und Unterstützung in der Gemeinschaft hilfreich seien, aber der Support durch Ärzte verbessert werden könne.“
Jedoch berichten Patienten häufig von Schwierigkeiten beim Absetzen der Psychopharmaka aufgrund schwerer Absetzsymptome.
Die Psychopharmaka Absetz-/Reduktions-Studie (PMDR)
Diese aktuelle Studie war als “Psychiatric Medication Discontinuation/Reduction Study (PMDR)“ bekannt und ist gemäß Ostrow „der erste U.S.-amerikanische Überblick einer großen Anzahl von Langzeit-Nutzern, die sich zum Absetzen der Psychopharmaka entschlossen haben.“
Die von der „Foundation for Excellence in Mental Health Care“ finanzierte und mit derzeitigen und ehemaligen Psychopharmaka-Nutzern durchgeführte Studie untersuchte die aus erster Hand vorliegenden Erfahrungen und Vorgehensweisen von Patienten, die sich zum Absetzen der Medikamente entschlossen hatten und diese entweder absetzten oder reduzierten.
Die Forscher werteten die Angaben von 250 Teilnehmern aus, von denen 87 % von weißer Hautfarbe und 76 % Frauen waren. Die Teilnehmer konnten über mehrere Diagnosen verfügen; die meisten hatten eine Depression (64 %), während andere unter einer bipolaren Störung litten (41 %).
Bei 20 % der Teilnehmer wurde eine Psychose diagnostiziert.
76 % der Teilnehmer nahmen ein Antidepressivum, 56 % ein angstlösendes Mittel und 47 % ein Neuroleptikum. Einige Teilnehmer nahmen auch Stimmungsstabilisierer (38 %) und Aufputschmittel (13 %).
Alle Teilnehmer versuchten, ein bis zwei verschreibungspflichtige Medikamente abzusetzen. Sie hatten die Medikamente über einen Zeitraum von mindestens 9 Monaten, die meisten (71 %) jedoch über 9 Jahre eingenommen. Fast 2/3 der Teilnehmer hatten sich in stationäre Behandlung begeben.
„Ungefähr ein Drittel (36 %) entschied sich dazu, über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten auszuschleichen, ein weiteres Drittel (31 %) tat dies in 1 bis 6 Monaten und ein Drittel (33 %) in weniger als einem Monat, wobei sich hier die Hälfte (16 %) für einen Kaltentzug entschied“.
Über der Hälfte der Teilnehmer (54 %) gelang es, ihre Psychopharmaka erfolgreich abzusetzen, und die Forscher stellten fest, dass diese Patientengruppe allgemein glücklich über ihre Entscheidung war.
Gemäß Ostrow seien „82 % derjenigen, die vollständig abgesetzt hatten, zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrer Entscheidung gewesen.“
Gründe für das Absetzen
Die Teilnehmer führten viele Gründe für ihren Wunsch, die Psychopharmaka absetzen, an.
Unter den am häufigsten genannten Gründen befanden sich
- - Sorgen um langfristige Nebenwirkungen (74 %)
- Begleitende Nebenwirkungen (72 %)
- Das Gefühl, dass das Medikament die Selbstwahrnehmung beeinträchtige (48 %).
29 % sagten, dass das Medikament einfach nicht wirke und 23 %, dass das Medikament seine Wirkung verloren hätte.
Die angegebenen Gründe stimmen mit früheren Untersuchungen überein.
Psychiatrisch erkrankte Patienten haben eine um durchschnittlich 25 Jahre reduzierte Lebenserwartung, welche zumindest teilweise der gesundheitsschädigenden Wirkung einer langfristigen Medikation, wie Stoffwechselprobleme und Organschäden, zuzuschreiben ist. Selbst der kurzfristige Gebrauch führt oft zu schweren Nebenwirkungen.
Eine kürzlich durchgeführte Studie stellte beispielsweise fest, dass mehr als 85 % der Nutzer von Antidepressiva unter Nebenwirkungen litten. Die Teilnehmer sagten aus, dass sie sich „abgetrennt und leblos“ fühlten und klagten über Libidoverlust und die Unfähigkeit, einen Orgasmus zu erleben, welches die Liebesbeziehungen der Teilnehmer empfindlich beeinträchtigte. Forschungsergebnisse zeigen, dass sexuelle Funktionsbeeinträchtigungen noch lange nach Beendigung der Medikamenteneinnahme fortbestehen.
Darüber hinaus möchten Patienten oftmals die Einnahme beenden, weil die Wirkung hinter den Erwartungen zurück bleibt. Die Wirksamkeit, beispielsweise von Antidepressiva, wurde immer wieder infrage gestellt. Meta-Analysen haben festgestellt, dass der Nutzen von Antidepressiva bei Patienten mit schwacher Symptomatik im Allgemeinen minimal oder gar nicht vorhanden ist.
Entzugserfahrungen
Ostrow schreibt, dass „der Entzug oftmals sowohl körperlich als auch emotional aufreibend war.“ Mehr als die Hälfte der Teilnehmer (54 %) bezeichneten ihre Entzugssymptome als schwerwiegend.
Die häufigsten Entzugssymptome waren Schlafstörungen (80 %), gesteigerte Angst (76 %), Schwierigkeiten im Gefühlsleben (73 %) und Traurigkeit oder Weinerlichkeit (70 %).
Einige weitere Entzugssymptome umfassten
- - Müdigkeit (69 %)
- Grippeähnliche Symptome (62 %)
- Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme (61 %)
- „Brain zaps“ und neurologische Probleme (61 %)
- Durchfall oder Verstopfung (47 %)
Was war hilfreich?
Weniger als die Hälfte der Teilnehmer (47 %) empfanden ihren Arzt während des Entzugs als hilfreich, obwohl fast alle (73 %) medizinisch versorgt wurden.
Die Teilnehmer gaben an, dass ihnen stattdessen die Unterstützung von Freunden und Familie und die Anwendung von Praktiken zur Selbstfürsorge geholfen hätten. 42 % der Teilnehmer berichteten, dass Freunde, die selbst einen Medikamentenentzug durchlaufen hatten, hilfreich waren, während 41 % die Unterstützung durch Internet-Gruppen hervorhoben. 39 % lobten den Rückhalt durch Familienmitglieder.
Die bevorzugten Strategien zur Selbstfürsorge waren
- - Information (z.B. Lesen, Internet-Recherche zum Thema „Absetzen“) (76 %)
- Zeit draußen verbringen (74 %)
- Schlafen (67 %)
- Zeit mit Haustieren/Tieren verbringen (67 %)
- Gefühle ausdrücken (67 %)
- Körperliches Training (66 %)
- Unterhaltung wie TV, Filme, lesen (63 %)
- Diäten und Ernährungsumstellung (57 %)
- Achtsamkeit/Meditation (57 %)
- Zeit im Wasser verbringen (55 %)
- Hobbys (55 %)
- Tagebuch schreiben/Schreiben (46 %)
- Rezeptfreie Medikamente (39 %)
- Reize reduzieren (39 %)
- Gebete/Mantras/Chanten (38 %)
Frühere Studien haben gezeigt, dass Ärzte über die Häufigkeit, Arten und Gefahren von Nebenwirkungen nicht informiert sind. Darüber hinaus wurden Ärzte dafür kritisiert, nicht ausreichend über verschreibungspflichtige Psychopharmaka aufzuklären. In einer der Studien erklärten Patienten, denen ein Antidepressivum verschrieben wurde, beispielsweise:
- - „Tatsächlich weigern sich Psychiater, Fragen zu beantworten und Nebenwirkungen anzuerkennen oder zu diskutieren.“
- „Die Nebenwirkungen wurden vom verschreibenden Hausarzt nicht sehr gut erklärt. Die Unfähigkeit, einen Orgasmus zu erlangen, ist eine besonders schlimme Nebenwirkung“.
- „Ich hätte gerne mehr über Nebenwirkungen erfahren. Ich musste mir viele Informationen selbst beschaffen, während ich in einem schwierigen Angst-Zustand war.“
- „Ich wurde nicht über die Nebenwirkungen aufgeklärt; tatsächlich war es so, dass ich selbst recherchierte und dann meine Ärztin informierte; sie hatte keine Ahnung, dass es (= das Medikament, Anm. des Übers.) in der Art und Weise beeinträchtigen konnte, wie es das bei mir tat.“
Schlussfolgerung
Gemäß der Verfasserin der aktuellen Studie:
- „Das Absetzen von Psychopharmaka scheint ein komplizierter und schwieriger Prozess zu sein, obwohl die meisten Teilnehmer mit ihrer Entscheidung zufrieden waren. Die künftige Forschung sollte Gesundheitssysteme und Anbieter anleiten, die Selbstbestimmung und Entscheidung des Patienten in Bezug auf das Einnehmen und Absetzen von Psychopharmaka besser zu unterstützen.“
Das heißt, es besteht für Ärzte die klare Notwendigkeit, den Erfahrungen von Psychopharmaka-Patienten Aufmerksamkeit zu schenken. Die Anbieter von medikamentösen Behandlungen müssen besser vorbereitet sein, um absetzwillige Patienten durch den Prozess des Absetzens zu führen und zu unterstützen.