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 ! Nachricht von: Oliver

Dieses Forum ist im Ruhezustand.

Es hat sich eine neue Gemeinschaft aus Betroffenen und Angehörigen gegründet, die sich weiterhin beim risikominimierenden Absetzen von Psychopharmaka unterstützt und Informationen zusammenträgt. Die Informationen, wie ihr dort teilnehmen könnt findet ihr hier:

psyab.net: wichtige Informationen für neue Teilnehmer


Die öffentlichen Beiträge auf adfd.org bleiben erhalten.

Bereits registrierte Teilnehmer können hier noch bis Ende 2022 weiter in den privaten Foren schreiben und PNs austauschen, aber es ist kein aktiver Austausch mehr vorgesehen und es gibt keine Moderation mehr.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die über die geholfen haben, dieses Forum über 18 Jahre lang mit zu pflegen und zu gestalten.


Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Eine Sammlung von Artikeln, die über wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche Hintergründe der Behandlung von seelischen Leiden mit Psychopharmaka berichten.
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Murmeline
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Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von Murmeline »

Liebe ADFDler,

nachdem Jamie unser aller Anliegen im September bei der Tagung "Wege aus der Depression. Antidepressiva absetzen?" vertreten konnte (siehe hier) freue ich mich, Euch mitteilen zu können, dass wir ein weiteres Mal dieses Jahr die Möglichkeit haben, öffentlich zu sprechen.

Übermorgen (Do, 29.11.2018, 8.30 - 10 Uhr) spreche ich als Iris Heffmann für das Forum beim jährlichen Kongress der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) im Rahmen des Symposiums "Ein neuer Umgang mit Absetz- und Entzugsproblemen bei Antidepressiva und Neuroleptika". Danke an Peter Lehmann, der mich freundlicherweise als Vertreterin der (virtuellen) Selbsthilfe eingeladen hat. Er verantwortet das Symposium zusammen mit Andreas Heinz, der übrigens der bereits gewählte nächste Präsident der DGPPN ist.

So wird das Symposium angekündigt:
Über die Diskussion zum Stellenwert von Absetz- und Entzugsproblemen bei Antidepressiva und Neuroleptika dürfen die akuten Nöte psychiatrischer Patienten nicht in den Hintergrund treten. Seit mehr als einem halben Jahrhundert berichteten Psychiater, allen voran Rudolf Degkwitz, von teilweise extrem belastenden bei Antidepressiva und Neuroleptika, ohne dass dies weiterreichende Folgen hatte. Mit der von Betroffenen einberufenen Expertenrunde zur Entwicklung eines Curriculums zum kompetenten Begleiten beim Absetzen von Psychopharmaka (PsychExit) entstand eine fächerübergreifende konsensorientierte Diskussion, wie interessierte Ärzte, Angehörige und Patienten zuverlässige Informationen zu allen Themen finden können, die mit dem schwierigen Thema der Absetzbegleitung und Dosisreduktion zu tun haben. Diese Diskussion wird aus Sicht Betroffener und Professioneller erörtert. Quelle
Das hier sind die Teilnehmer, uns bleiben jeweils 15 klitzekleine Minuten. :roll:
Peter Lehmann, Berlin
Überfällige ärztliche Hilfen beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika

Wenn Ärzte ihren Antidepressiva und Neuroleptika verordnen, ohne dabei auf die Entzugs- und Absetzproblematik hinzuweisen, verstoßen sie gegen die Behandlungsleitlinien und machen sich zivil- und strafrechtlich angreifbar. Höchstrichterliche Urteile, die in der Vergangenheit wegen strafrechtlich relevanter Bewirkung von Medikamentenabhängigkeit bei der Verordnung von Benzodiazepinen ergangen sind, dürften früher oder später auch bei der eventualvorsätzlichen Bewirkung von Medikamentenabhängigkeit bei der Verordnung von Antidepressiva und Neuroleptika ergehen.

Auch die Hersteller informieren grob fahrlässig über mögliche Probleme beim Absetzen mit dem Ergebnis, dass viele Ärzte (sowie psychiatrische Patientinnen und Patienten) viel zu schnell absetzen, Absetz- und Entzugsprobleme mit Rückfällen verwechseln und die Psychopharmaka erneut verordnen (bzw. einnehmen), anstatt mit geeigneten Maßnahmen die Absetz- und Entzugsprobleme überwinden.

Unbedingt nötig wäre es, schon im Vorfeld Informationen über Probleme und risikomindernde Maßnahmen beim Reduzieren und Absetzen bereitzustellen, insbesondere da geeignete Formen stationärer und außerstationärer ärztlicher Unterstützung in aller Regel nicht bestehen.

Einen Ausweg aus der Misere stellt die von Betroffenen einberufene Expertenrunde zur Entwicklung eines Curriculums zum kompetenten Begleiten beim Absetzen von Psychopharmaka (Psychexit) dar - eine fächerübergreifende konsensorientierte Diskussion, wie interessierte Ärzte, Angehörige und Patienten zuverlässige Informationen zu allen Themen finden können, die mit dem schwierigen Thema der Absetzbegleitung und Dosisreduktion zu tun haben. Quelle
Jann E. Schlimme, Berlin
Begleitung der kontrollierten Neuroleptikareduktion

kein Abstract

Iris Heffmann, Berlin
Psychopharmaka absetzen - Hilfen und Erfahrungsaustausch per Internet

Wenn Betroffene sich beim Reduzieren oder Absetzen von ihren Ärzten nicht (ausreichend) unterstützt fühlen oder ihre Entzugssymptomatik nicht ernst genommen wird, suchen und finden sie Informationen und Austauschin virtuellen Selbsthilfegruppen. Im Forum der privaten Initiative ADFD sind viele Betroffenenberichte dokumentiert, darunter auch solche über schwierige Absetzverläufe und langanhaltende postakute Entzugsstörungen. Aus den gesammelten Erfahrungen der Betroffenen wurden hilfreiche Strategien für einen risikominimierenden Absetzprozess über einen längeren Zeitraum entwickelt sowie praktische Tipps zur Herstellung kleiner Dosisschritte. Im Online-Austausch wird vor allem eine große Verunsicherung vieler Betroffener aufgefangen, da ihre Symptome laut behandelnder Ärztinnen und Ärzte nicht oder nicht in dieser einschränkenden Intensität oder Dauer existieren dürften. Der virtuelle Raum bietet Betroffenen daher die Möglichkeit, im Austausch mit anderen zu erfahren, dass sie mit ihren Problematiken nicht alleine sind und wie sie Absetzprozesse und Entzugssyndrome bewältigen können. Quelle
Martin Voss, Berlin
Anmerkungen zur Abhängigkeitsdiskussion und Umgang mit Medikamenten im stationären Setting der Soteria

kein Abstract

Ich habe mich entschieden, allgemein einige Sätze zum Forum und zu Entzugsschwierigkeiten zu verlieren sowie die aktuelle Fachliteratur zum Thema Online-Erfahrungsberichte und Foren als Gemeinschaften zur gegenseitigen Hilfe vorzustellen. Den Text findet ihr nachfolgend.

Ihr dürft gerne an mich denken am Donnerstag, ich befinde mich ja quasi in der Höhle des Löwen :whistle:

Grüße, Murmeline
Murmeline
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Re: Vortrag beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von Murmeline »

Hier das Manuskript des Vortrages.

Guten Morgen!

Ich freue mich, heute als Vertreterin der Selbsthilfe an diesem Symposium teilzunehmen.

Ich vertrete eine besondere Form der Selbsthilfe, und zwar eine virtuelle Selbsthilfegruppe. Das heisst, der Austausch der Betroffenen über Absetzschwierigkeiten online stattfindet, über ein Forum als Austauschplattform.

Der Titel dieses Symposiums lautet ja: Neuer Umgang mit Absetzproblematiken.

Der virtuelle Austausch zu diesen individuellen Schwierigkeiten ist jedoch nicht neu. Das Forum ADFD gibt es seit 2003, also bereits 15 Jahre. Es wurde von Betroffenen und Angehörigen als private Initiative gegründet. Diese haben damals für ihre Probleme gegenseitige Unterstützung in englischsprachigen Foren gefunden - diese gab es also noch früher - und wollten diese Austauschmöglichkeit und unabhängige, kritische Informationen auch auf deutsch zur Verfügung stellen.

Online Erfahrungsberichte / virtuelle Selbsthilfe gibt es also schon länger. Was neu ist, ist das Interesse der Forschung und Fachzeitschriften am Thema. Darüber möchte ich heute sprechen, zunächst aber noch etwas zum Forum und zu Entzugssymptomatiken allgemein sagen.

Schwerpunkt bei Gründung des Forums lag auf Antidepressiva, daher auch das Akronym ADFD / das bedeutet ausformuliert Antidepressiva Forum Deutschland. Heute ist ADFD ein Eigenname für die virtuelle Gruppe geworden und gibt es Austausch zu Absetzschwierigkeiten von allen Psychopharmaka, also auch Neuroleptika und Benzodiazepine.

Es gibt weltweit mehrere Foren oder andere online-Gruppen, beispielsweise auch auf Facebook.

Manche Menschen können ihre verschriebenen Medikamente relativ problemlos absetzen. Andere haben leichte, mittelschwere oder schwerwiegende Symptomatiken, die es ihnen dann beispielsweise nicht mehr möglich machen, ihrem Beruf nachzugehen oder am sozialen Leben teilzunehmen. Im Forum finden sich aufgrund des Schwerpunktes sehr schwierige Reduktions- und Absetzverläufe mit komplexen Symptombildern und auch anhaltenden postakuten Störungen. Diese körperlichen und psychischen Symptome können über Wochen und Monate oder auch über Jahresgrenzen hinaus anhalten. Sie treten oftmals in Wellen auf.

Im Forum sprechen wir bewusst von Entzugssymptomen, weil es dem Erleben der Betroffenen entspricht. Letztendlich wird es auch in den relevanten aktuellen Fachartikeln zum Thema so gehandhabt und empfohlen. (Neue Klassifizierung des Entzugs von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern oder Withdrawal Symptoms after Selective Serotonin Reuptake Inhibitor Discontinuation: A Systematic Review)

Wir gehen zudem von einem körperlichen Abhängigkeitspotential im Sinne einer neurophysiologischen Adaption bzw. Gewöhnung aus.

In allen Betroffenengruppen weltweit hat sich ein Konsens entwickelt, wie man möglichst risikoarm vor allem bei Langzeiteinnahme absetzt. Empfohlen wird ein langfristiger und kleinteiliger Ausschleichprozess von 10% Reduktionen, individuell von der jeweiligen aktuellen Dosis ausgehen, alle 4-6 Wochen. Es handelt sich um eine Orientierung. die individuell anzupassen ist. Immer wieder müssen Betroffene, die starke Absetzsymptome haben, im Verlauf noch kleinere Schritte wählen.

Im virtuellen Austausch gibt es neben der Dokumentation von Absetzverläufen auch viele Erfahrungswerte und Tipps, wie man kleine Dosisschritte herstellt. Dies kann beispielsweise über das Zählen von Kügelchen bei Präparaten wie Venlafaxin erfolgen. Manche Betroffene arbeiten mit Feinwaagen, viele unretardierte Tabletten lassen sich in Wasser auflösen um gewünschte Einheiten herzustellen. Erfreulich ist es, wenn ein kooperierender Psychiater gefunden wird, der ein Rezept für Individualrezepturen ausstellt.

In den Leitlinien zur Behandlung von Depression wird allgemein ein Ausschleichen über vier Wochen nahegelegt, ohne weiteren Bezug beispielsweise auf die Einnahmedauer. Viele der Forumsteilnehmer nehmen jedoch schon sehr lange Medikamente, ich spreche hier von 5, 10, 15 bis beispielsweise 35 Jahren.

Betroffene, die das Forum aufsuchen, haben zumeist in kurzen Zeitspannen - oft auch ärztlich begleitet - reduziert und abgesetzt und sind mit Symptomen konfrontiert, die neu und oft auch beängstigend für sie sind. Nicht selten sind die Teilnehmer sehr verzweifelt.

Viele Teilnehmer bekommen von ihrem Behandlern keine Anerkennung oder Hilfestellung. Viel zu oft herrscht das Credo vor, Symptome seien garnicht nicht zu erwarten oder wenn, dann allgemein leicht und selbstlimitierend. Dies trifft auf eine unbekannte Anzahl Betroffener jedoch nicht zu.

Warum ist es schwierig mit dem Wissen um Entzugssymptome und die Anerkennung von Absetzsyndromen?
Vielleicht gibt ein Zitat von Psychiater Dr. Jan Dreher / Blog psychaitrietogo aus dem Buch Antidepressiva absetzen von zwei Betroffenen (Mischa Miltenberg und Melanie Müller) einen Anhaltspunkt.

Dr. Dreher schreibt (Zitat)
In den etablierten Büchern zur Psychopharmakotherapie stehen Absetzsymptome erst seit wenigen Jahren drin, wenn überhaupt. Früher kannte das kein Mensch. In der Ausbildung hat mir das auch keiner erzählt. Als ich den Blogbeitrag (2014) schrieb, wusste ich auch nicht, dass es das gibt. Doch dann kamen sehr viele Kommentare von Patienten, dass es sehr wohl Absetzerscheinungen gibt.

Einen weiteren Anhaltspunkt warum es schwierig liefert eine Aussage von Dr. Ulrich Vorderholzer, zu finden bei seinem Blogbeitrag „Wieviel Antidepressiva sind zuviel“.

Er schreibt, dass Menschen die Antidepressiva – vor allem nach jahrelanger Anwendung – nur sehr schwer absetzen können oft nicht das Verständnis und die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, weil auf die Problematik bisher zu wenig Aufmerksamkeit gerichtet worden sei, aber derzeit ändere sich das ganz rapide.

Er setzt sich übrigens ganz aktuell in einem Artikel der Zeitschrift Psychiatrische Praxis mit den Pro-Argumenten für eine Abhängigkeit von Antidepressiva auseinander. Quelle

Wenn Forumsteilnehmer ihren Behandlern mitteilen, das sie online viele Berichte von Betroffenen gelesen haben, denen es ähnlich geht, heisst es nicht selten: Ach, online kann man ja viel erzählen. Die Wichtigkeit von Onlineberichten sehen aber gerade diejenigen, die sich in der Forschung mit dem Thema Entzugssymptomatiken auseinandersetzen.

Dr. Dee Mangin (Neuseeländerin, Professorin in Kanada), führte eine Absetzstudie zu Fluoxetin durch und erklärte in einem Interview, wichtige Forschungsarbeit hätten Betroffene selbst geleistet, in dem sie sich online über ihre Symptome ausgetauscht haben und dabei ähnliche Muster entdeckt hätten.

Kurzer Hinweis zu ihrer Studie, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlich sind: In einem Interview hat sie vorab bereits erklärt: Bei einigen Teilnehmern waren die Symptome so schwerwiegend, dass sie den Entzug nicht aushielten und sie zu ihrer ursprünglichen Medikation zurückkehren mussten. Quelle

Auch Toni Kendrick sieht die Relevanz der Onlineberichte. Er führt in den UK eine Langzeitstudie zum Absetzen von AD durch und erklärt in einem Interview, dass es zunehmend Berichte von Betroffenen gäbe, die nach dem Absetzen Symptome bekommen, die sehr lange anhalten können über Monate und Jahre. Diese Bericht fänden sich v.a. in den themenspezifischen Online-Gruppen und diese seien daher sehr hilfreich, um Fallbeispiele zusammenzutragen. Quelle

Welche Literatur gibt es zum Thema Online-Erfahrungsberichte?
Studie 2012, Psychotherapy and Psychosomatics, Autoren: Carlotta Belaise et al. Quelle (ist wie viele anderen aktuelle Artikel zum Thema im Forum im Bereich Hintergrundinfos verlinkt und teilweise übersetzt)

Analysiert wurden im Internet veröffentlichte Beschreibungen, die von siginifikanten akuten Entzugssymptomen und auch von Langzeitentzugsyndromen berichten. Letzteres verstehen die Autoren als tardive Rezeptorensensibilitätsstörung.

Ergebnisse:
Die Studie bestätigt die Symptome, die in der Literatur als diejenigen geführt werden, die am häufigsten auftreten. Körperliche Symptome können beispielsweise Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Schwindel, Tinnitus und Gangstörungen und viele andere sein.

Im Forum außerdem häufig beschrieben: ausgeprägte körperliche Schwäche, Verspannungen, Schmerzen, Herzrasen, Störungen des Immunsystems (häufige Entzündungen und Infekte), massive Reizüberempfindlichkeit, beispielsweise auf Licht und Geräusche

Signifikante anhaltende postaktute Symptome psychischer Natur würden laut Studie u.a. aus Angststörungen, Panikattacken, verspätet einsetzende Schlaflosigkeit, depressiven Verstimmungen, emotionale Instabilität, Reizbarkeit, und andere bestehen

Weitere Ergebnisse:
Auch nach einer sehr allmählichen Reduzieren treten nach den meisten Studien noch neue Entzugserscheinungen auf, was auch in dieser Studie zu Onlineerfahrungsberichten bestätigt wird.

Die Autoren erklären:
Eine Neubewertung von tardiven, also verspätet einsetzenden anhaltenden Entzugssstörungen könne auch zu einem besseren Verständnis von Rebound, Wiederauftreten und Rückfall beitragen. Neue Forschung, wie diese Symptome zu interpretieren seien und sie zu beschreiben sei dringend erforderlich

Auch bei uns im Forum kann man Berichte vom zeitversetzten Auftreten der Symptome nach Reduktionen oder nach Null lesen, dies können Tage als auch Wochen nach dem Absetzen sein.

Die führende Forscherin der Studie, Carlotta Belaise, erklärte in einem Interview:
Zitat: Was mich bei der Erforschung dieser Berichte beeindruckte, war, dass diese Patienten sich von der offiziellen Psychiatrie so alleingelassen fühlen.

Ganz neue Studie 2018, International Journal of Risk and Safety in Medicine. Autoren: Tom Stockman et. al. unter Leitung von Joanna Moncrieff. Quelle
Analysiert wurden ebenfalls Betroffenenberichte aus dem grössten amerikanischen Forum, surviving antidepressants, gegründet 2011.

Ein Ergebnis:
„Die berichtete maximale Dauer von Entzugssymptomen überstieg deutlich die Obergrenze, die im allgemeinen bei Patienten angenommen wird. (durchschnittliche Dauer bei den Betroffenen: 21 Monate SSRI / 12 Monate SNRI)

Weiteres Ergebnis:
Es gibt Symptombeschreibungen, die schon standardisiert erfasst wurden wie BrainZaps, aber auch solche, die bisher nicht klassifiziert sind und weniger bekannt sind: „Gehirn-Schwappen“, „der Augenbewegung hinterher hinkende Sicht“ oder „Wattegefühl im Kopf“/oft auch als Brain Fog beschrieben.“

Weitere Phänomene die im Forum beobachtet werden können:
Viele Betroffene entwickeln im Entzug erstmalig Unverträglichkeiten, sie reagieren mit unerwünschten Auswirkungen auf weitere Psychopharmaka, andere ZNS-aktive Medikamente, für Narkosemittel, Antibiotika, Betablocker, Antihistaminika, Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine (u. a. B und D) oder Schilddrüsenmedikamente. Es können auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten (u. a. Histamin) oder Allergien erstmals auftreten.

Ebenfalls finden sich im Forum Berichte, dass unklare neurologische Symptome im Einzelfall zu Verdachtsdiagnosen wie Polyneuropathie, MS, Tumoren führen und demzufolge zu weiteren Untersuchungen, zumeist ergebnislos.

Letztes wichtiges Ergebnis der Studie:
Die Autoren stellten fest, dass die Dauer der Entzugssymptome mit der Dauer des Ausschleichens korrelierte, was „darauf schließen lässt, dass Menschen mit schweren und verzögerten Entzugssymptomen ihre Antidepressiva nur langsamer reduzieren können“.

In deutschen Fachmedien ist meines Wissens wenig von Entzugssymptomen und Online-Erfahrungsberichten zu lesen.

Ausnahmen sind beispielsweise die unabhängige medizinische Fachzeitschrift Arzneimittelbrief Quelle. Hier erschien 2015 ein Artikel und die Autoren erklären u.a.

Die Psychiatrie sehen wir in der Pflicht, praktikable Strategien für das Absetzen zu entwickeln und in der ärztlichen Fortbildung flächendeckend zu propagieren.

Ein weiterer Artikel erschien in der Ausgabe 5/2018 der pharmakritischer Arznei- und Gesundheitszeitschrift „Gute Pillen - Schlechte Pillen“. Quelle

Zudem veröffentlichte Peter Lehmann 2016 den Artikel „Antidepressiva absetzen - Massive Entzugsprobleme, keine professionellen Hilfen“ im Rundbrief des Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Quelle

Allerdings: von einem Redaktionsleiter des deutschen Ärzteblattes habe ich vor kurzem auf Nachfrage die Information erhalten, dass man derzeit ein entsprechendes Manuskript zu Absetzproblematiken vorbereiten lässt. Ich bin gespannt, ob und wann es veröffentlich wird.

Das Thema Absetzschwierigkeiten wird letztendlich immer mehr beachtet, was man beispielsweise auch daran sieht, dass die Psychiatric Times im Februar diesen Jahres dem Thema Online Communities zum Austausch bei Entzugssymptomatiken einen Leitartikel gewidmet hat und die Autoren erklären, was man aus diesen Foren lernen kann. Quelle

Autoren erklären, dass immer mehr Betroffene Austausch in Online-Community suchen und sich durch diese Foren wie nie zuvor vernetzen könnten.

Wichtige Einschätzungen der Autoren aus dem Artikel sind folgende:
  • Online-Gemeinschaften würden zeigen, dass viele Ärzte nicht auf Entzugsstörungen vorbereiten sind und es Lücken gibt, diese Symptome zu behandeln oder Patienten durch komplizierte Entzüge zu begleiten.
  • Entzug sei nicht für alle gleich, es gäbe eine Heterogenität der Symptome. Daher sei es eine Herausforderung und dringend erforderlich, diagnostische Kriterien zu entwicklen, die helfen die Syndrome zu erkennen.
  • Es sei zudem unklar, wieviele Ärzte sich bewusst seien, wie vielfältig Entzugssyndrome sein können. Dies könne zu Fehldiagnosen führen und die Symptome beispielsweise einer psychischen Störung zugeordnet werden oder einer neuen körperlichen Erkrankung.
  • Die Autoren erklären zudem, dass die Anerkennung, dass der Patient eine iatrogene (durch ärztliche Massnahmen verursachten) Komplikation hat, sei essentiell für den Recovery-Prozess.
  • Auch wenn viele Menschen keine größeren Schwierigkeiten hätten, diese Medikamente abzusetzen, würde deutlich, dass Entzugssyndrome nicht selten sind, was auch ein wichtiges Thema für das Gesundheitswesen und die Verschreibungspraxis allgemein sei.
Ein abschließendes Fazit der Autoren lautet:
Ein allgemeines Verständnis von komplexen Entzugssituationen und die Anerkennung der Syndrome sei von höchster Wichtigkeit, da sich sonst die Betroffenen vom medizinischen Establishment abwenden und ihre Unterstützung rein im Internet suchen würden. Autoren empfehlen: Fachkräfte sollten sich zudem mit Online-Communities vertraut machen.



Dieses Fazit möchte ich ergänzen.

Seit sehr vielen Jahren bleibt zu vielen Betroffenen nur die virtuelle Selbsthilfe.

Das ist keine ideale Situation sondern mehr als unglücklich, wenn Wissen, Anerkennung und Unterstützung im echten Leben fehlen und es viel zu oft heisst: Ihre Probleme können garnicht oder nicht in dieser Schwere und Dauer mit der Reduktion oder dem Absetzen ihrer Medikamente zusammenhängen.

Es wäre schön, wenn Sie alle dazu beitragen, dass sich das Wissen um und die Anerkennung von Absetzproblematiken weiter verbreitet und Betroffene bereits beim Reduzieren und Absetzen besser unterstützt werden - beispielsweise indem Sie über potenzielle Entzugsprobleme aufklären oder längere, kleinteiliger Ausschleichprozesse begleiten, damit es erst garnicht erst zu komplexen Entzugsbeschwerden kommt.

Viele Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Murmeline
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Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von Murmeline »

Hier bleibt Platz für einen kurzen Bericht, wird ergänzt.
Berlin-2013
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Re: Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von Berlin-2013 »

HEY MURMELINE

Gestern lief um 22 Uhr im NDR eine Sendung zum Thema: Pharmaindustrie und ihre Machenschaften..... ich habe den Eindruck es bewegt sich viel, nur eben langsam..... toll was du da machst und ich denke an dich.

NEUE ÄRZTE BRAUCHT DAS LAND😉

Habe dazu vor kurzem Kontakt zum NDR aufgenommen: ABSETZEN Unwissenheit der Ärzte mal schauen?
Zuletzt geändert von Berlin-2013 am 27.11.2018 16:06, insgesamt 1-mal geändert.
Off Topic
Viele Grüße aus Berlin
😍
FAZIT: Ich war viel zu schnell unterwegs und DAS hat alles verschlimmert und den Entzug dadurch unnötig verlängert!! :schnecke: besser ist ZEIT UND GEDULD beim Absetzen. Microtappering ist die beste und schonendste Variante!

Am 13. September 2021 genau 7 Jahre nach 0 mg :party2: Die Heilung des ZNS ist leider erst zu 90 % erfolgt und da es bei mir nur langsam voran geht 🙄 kostet es mich sehr viel Kraft, Disziplin, Geduld und Willensstärke!

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Berlin-2013
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Re: Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von Berlin-2013 »

Apropo: Höhle der Löwen

Trau dich; die Zeit ist reif

Daumen sind gedrückt 🎈
Off Topic
Viele Grüße aus Berlin
😍
FAZIT: Ich war viel zu schnell unterwegs und DAS hat alles verschlimmert und den Entzug dadurch unnötig verlängert!! :schnecke: besser ist ZEIT UND GEDULD beim Absetzen. Microtappering ist die beste und schonendste Variante!

Am 13. September 2021 genau 7 Jahre nach 0 mg :party2: Die Heilung des ZNS ist leider erst zu 90 % erfolgt und da es bei mir nur langsam voran geht 🙄 kostet es mich sehr viel Kraft, Disziplin, Geduld und Willensstärke!

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gioia
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Re: Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von gioia »

Hallo Murmeline

Danke dass du das machst und alles Gute!

LG
Gioia
Schlafstörung/Burnout Sommer 2016
2 Monate Einnahme Escitalopram und MIrtazapin: bettlägrig, stromempfindungen, zittern, extreme Schwäche, Hitze im Körper, Ängste wie nie zuvor im Leben
Auch nach absetzen, über Monate zittrig und schwach
12/2016: Pregabalin, nach 3 Monaten Einnahme: wieder bettlägrig, massives inneres und äußeres Zittern, extreme Schwäche, Gangstörungen, kaum mehr Morgenharn, Wasseransammlung im Gewebe, Krampfanfall, Atemnot , massiv verstärkte Ängste, massive Anspannung
Schnelles absetzen, (08.03.2017)massive Symptome über Monate, stromartige Spannung jeden Tag, Ängste, die ich vorher nie hatte, zittern wie bei Parkinson
04/2017: Deanxit aus Verzweiflung, Spannung hört langsam auf, kann Benzo absetzen, jedoch fühle ich mich nicht wie früher oder gesund, viel viel ängstlicher als ich je war
10/2017: Absetzen deanxit über einige Wochen, danach bricht Stromspannung mit aller Gewalt wieder los, wie im März zuvor
Muss wieder praxiten nehmen, da unaushaltbare Zustände
Benzo (praxiten/Halcion) konnte ich problemlos reduzieren, auch nach langer Einnahmedauer kaum Toleranz, Benzo für mich Lebensretter
2018: war in meinem ganzen Leben noch nie so krank wie durch dieses Dreckszeug, SSRI, SNRI, Pregabalin,
03/2018: starkes Vergiftungsgefühl, Blasenprobleme
ab 06/2018: massiver Haarausfall, netzartige Flecken auf Armen und Bauch
10/2018: Atemprobleme kommen verstärkt dazu
03/2019: je mehr Folterspannung zurückgeht, desto weniger Praxiten brauch ich, Atmungsprobleme bessern sich langsam, Haare wieder normal, totale Erschöpfung
04/2019: an guten Tagen kurz spazieren gehen, total erschöpft, Spannung ab Mitte April langsam besser, Nervenschmerzen, Nervenbrennen, immer wieder starkes Ziehen in den Armen , bei Zyklus wie in andere Galaxie geschossen, Schlaf immer noch gestört, werde immer noch nicht normal müde wie früher vor diesem Tablettenalptraum
Beine zittern vor Erschöpfung, kein Einkaufen , kein Autofahren möglich
07/2019: kurze Autofahrt möglich, hin und wieder einkaufen , Spannung im Körper immer noch
08/2019: Mitte August Verletzung am Finger, zuerst Verdacht auf Nagelbettentzündung, Behandlung mit Jodsalbe, Zugsalbe, Ende August Hautarzt-> starke Kortisonsalbe
09/2019: ab 2.09. wie wenn Bombe im Körper einschlägt, alle Symptome wieder da, inneres Zittern, kann kaum sprechen, starke Brustenge mit Atemnot, schrecklicher Druck im Körper , Schlaf wieder stark gestört
Mitte September: Neurologin: Verdacht auf Morbus Sudeck
10/2019: Ende Oktober leichte Besserung der Symptome
11/2019: ab 30.10. schwere Magen Darm Grippe mit Fieber, über drei Wochen nur im Bett, massive Erschöpfung, Zittern beim Stehen, kann nur ca. 15-20 Minuten stehen, Übungen zuhause um Beweglichkeit des Fingers zu verbessern, auch Ringfinger und kleiner Finger betroffen
01/2020: teilweise noch starker Kopfdruck, bremseliges Gefühl Kopfmitte, enorme Schwäche, kann nur kurze Strecke gehen, kein Autofahren oder Einkaufen möglich, Bandagen an Fingern helfen gegen Schmerzen
05. 2020 -07. 2020: das Lähmumgs - Spannungsgefühl im Körper kehrt immer wieder, von Kopfmitte ausgehend ein pulsierender ziehender Schmerz in den Körper ausstrahlend, besonders die Beine betroffen. Dort immer wieder auftauchendes Nervenbrennen. Extreme Schwäche
padma
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Re: Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von padma »

hier ein Bericht von Escargot :) zu dem Kongress:
Liebe Foris, es war extrem bereichernd bei diesem Kongress dabei zu sein. Habe ziemlich viel gehört:

Donnerstag war ich beim Symposium "Ein neuer Umgang mit Absetz- und Entzugsproblemen bei Antidpressiva und Neuroleptika"

Das war ja auch das Symposium, weshalb ich mich überhaupt entschlossen hatte teilzunehmen.

Erst kam Peter Lehmann und der sagte auch es habe irgendwie 1987 schon ein Gerichtsurteil gegeben, dass das Verschreiben von Benzodiazepinen und damit ggf. ausgelöste Abhängigkeit Körperverletzung sei und zumindest vereinzelt nehmen die Hersteller das auch in ihre Risiken und Nebenwirkungen mit auf und können sich offenbar dem Thema auch nicht mehr komplett verschließen.

Dann gab es so eine Studie mit 250 Teilnehmern, wo die Mehrheit angab am wenigsten Hilfe beim Absetzen durch die Ärzte erfahren zu haben. Schon erschreckend!

Buchtipp: Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika

Weiter ging es darum, dass man den Reduktionsprozess auch immer als Genesungsprozess sehen müsse und es wurden 3 Chancen und 3 Risiken gegenübergestellt. Das war ziemlich gut dargestellt und das jede Chance auch ein Risiko sein könne. So zum Beispiel das Aushalten von Gefühlen. Man könne einerseits froh darum sein, andererseits sich aber auch überfordert damit fühlen, wenn die durch Neuroleptika bedingte Dämpfung dann entfalle.

Sehr viel ging es auch um die kognitive Verbesserung, die viele erstmal als sehr positiv empfinden. Dann ging es um ein paar Studien, in denen meine beiden NL nämlich Olanzapin und Risperidon vorkamen und um einen hypersensitiven Zustand und extreme Dünnhäutigkeit (28 %)!!
Das ist auch das, was ich erlebe auch mit jeder weiteren Reduktion.

Buchtipp: Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen

Und schließlich noch der Vortrag hier zum Forum, in dem auch die Entzugssymptome und das körperliche Abhängigkeitspotenzial erörtert wurden und die Wichtigkeit der langfristigen und kleinteiligen Reduktion zum Beispiel mittels Feinwaage oder Wasserlösmethode.

Und wichtig nochmal die Patienten nicht allein zu lassen mit ihren Reduktionswünschen, denn so bleibe ihnen nur das Internet, was allein gesehen nicht so optimal ist.

Dann nochmal der Schwerpunkt auch auf tardiven Rezeptorsensibilitätsstörungen und der Hinweis, dass die durchschnittliche Dauer der Entzugssymptome 21 Monate betrage.

Ich hatte dann noch etwas Zeit mit meiner Begleiterin und wir gingen noch auf einen Kaffee zusammen in eine ruhigere Ecke, wo es auch einen Kicker gab. Gekickert haben wir aber nicht.

Anschließend war ich in einem coolen Vortrag über Entspannung und der Methode der Funktionellen Entspannung insbesondere durch verlangsamte Atmung. Das konnte man mittels Biofeedback gut darstellen und es gab auch gleich zu Beginn eine Übung, die wir machten und die mich überraschte, denn sie funktionierte selbst in dem sehr überfüllten Raum und ich entspannte merklich.

Aufmerksamkeitsregulation und Entspannung durch Nutzung "langsamer Potenziale"

Das Optimum für einen Atemzyklus betrage etwa 10 Sekunden, wobei man etwa vier Sekunden einatmet und 6 Sekunden ausatmet und das Ganze eta 7 Min. lang durchhält. Wenn man das zwei bis dreimal am Tag macht, könne man deutlich Ängste minimieren.

Buchempfehlung: Langsamer Atmen, besser leben

Abschließend wurde nochmal auf den Faktor ZEIT aufmerksam gemacht, der so wichtig sei für uns auch und weshalb die Dozenten ihre Patienten viel malen und tappen, klopfen auch schreiben lassen. Das schaffe Zeitfenster für Reprocessing.

Als nächstes war ich bei "Absetzen von Psychopharmaka" mit einem Dozenten, der mannigfaltige Interessenkonflikte mit Pharmaunternehmen hatte! Aber das Thema Psychopharmaka absetzen sei im April dieses Jahres sogar auf dem Cover der New York Times gewesen und werde international diskutiert.

Seit Ende der 50er Jahre werden Dopaminantagonisten gegeben mit dem Ziel den "Dopaminexzess" und damit die Positivsymptomatik zu blocken.

Irgendwann kam die Frage auch auf, ob die Behandlung (mit Psychopharmaka) schlimmer sei als die Erkrankung selbst.

Allgemein war der Tenor aber man müsse um jeden Preis alle Symptome weg machen und ein Rezidiv verhindern, weil das vorherige Funktionsniveau nicht mehr vollständig erreicht werde.

Es gab auch Studien mit Placebos, bei denen heraus kam, dass die psychopharmakotherapeutische Behandlung (27 % Rezidive) "besser" sei als Placebos (64 % Rezidive), obwohl letztere deutlich weniger Nebenwirkungen machen.

Je länger die pharmakologische Behandlung andauerte, desto höher das Risiko eines Rückfalls beim Absetzen. Langzeiteinnahme zwar kritisch wegen des Gehirnvolumenverlustes, aber manchmal unumgänglich. Allerdings brauchen etwa 20 % der Patienten keine Dauerbehandlung nach Ersterkrankung.

Er ging auch auf die Besetzung der Rezeptoren ein und die Tendenz gehe dahin möglichst niedrig aber dennoch langfristig zu dosieren. So sei bei 1 % Haloperidol bereits 50 % Rezeptorenbelegung erreicht.

Und dann ging es weiter um Antidepressiva und da wurde endlich auch mal anerkannt, dass es Absetzsyndrome gibt und wie folgt zusammengefasst

FINISH
F lue-like symptoms : (Grippeähnliche Symptome)
I nsomnia : (Schlafstörungen, intensive (Alp)träume
N ausea : (Übelkeit, Erbrechen)
I mbalance : (Gleichgewichtsstörungen, Schwindel)
S ensory Disturbances : („Stromschläge“, Dysästesien)
H yperaraousal : (Ängstlichkeit, Agitation, Reizbarkeit)

Entzugssymptome seien immer "Gegenregulation des Körpers" und es gibt eine 43-Symptome-Checkliste!

Meist treten Entzugssymptome rasch (nach 3-5 Halbwertszeiten des Medikamentes) auf und verschwinden nach Wiedereinnahme schnell. Je kürzer die Halbwertszeit, desto eher Entzugssymptome. Meist spontane Rückbildung innerhalb von 2 (-6 Wochen) und überwiegend milde und reversible Symptomatik.

Durschschnittlich 56 % der Konsumenten zeigten Entzugssymptome und die Hälfte davon mit starker Ausprägung. 7 von 10 Patienten haben länger als 2 Wochen Entzugssymptome, teilweise mehrere Monate. Besonders hohe Raten bei Paroxetin und Venlafaxin. Fluoxetin und Agomelatin hingegen selten oder gar keine Entzugssymptome.

Dann ging es noch kurz darum, ob man es Absetz- oder Entzugssymptome nennen sollte. Der Vortragende gibt zu, dass es sich um Entzugssymptome sicher handele, jedoch keine Abhängigkeit vorliege und rechtfertigt es mit der Klassifizierug nach ICD10.

Danach war ich in einem Vortrag von Tom Craig "Discussion with voices : The AVATAR clinical trial."

Die Ergebnisse waren sehr spektakulär und auch der Vortrag inkl. Videos der Therapie. In einem ersten Schritt wird die Stimme in einer Computersimulation erstellt und dann ein Gesicht dazu und der Therapeut befindet sich dann sozusagen in einem Trialog. Der Patient, der AVATAR und der Therapeut.

Die Therapie dauere nur ca. 6-8 Sitzungen á 45 Min. und nach 12 Wochen haben sich bereits 84 % der Patienten in der Symptomatik verbessert. Von 16 Patienten in der einen Studie hören 3 sogar gar keine Stimmen mehr.

Dann noch ein Vortrag Schizophrenie - Pharmakotherapie

Da ging es um die gängigen Medikamente und erwünschte und unerwünschte Nebenwirkungen. Natürlich auch wieder viel um Olanzapin.
Großes Thema waren auch Diabetis / Übergewicht, Prolaktinwerterhöhung und sexuelle Funktionsstörungen und tardive Dyskinesien.

Das war der Donnerstag. Uff!
Viel Input.

Dann am Freitag habe ich noch ein Symposium besucht zu Dissoziationen. Da ging es erst viel um die Definition und dann spätere Umbenennung des Begriffes und dann aber auch die Therapie, wo ausdrücklich die Empfehlung ist Psychotherapie zu machen. Die Pharmakologische Therapie (mit SSRI zum Beispiel) schneide nicht gut ab durchgängig in allen Studien.

Interessant fand ich dann den Ansatz so ein Protokoll zu machen. Und der Dozent berichtete, dass dissoziative Patienten im Moment der Dissoziation nicht lernen.

Und abschließend war ich in einem trialogischen Symposium, wo es um die Genesung von Psychosen ging.
Erst nochmal Jann Schlimme auch zum Dreischritt der Genesung und zu Neuroleptika. Und nochmal die drei Chancen (kognitive Verbesserung, erwachende Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse u. Veränderung der interpersonalen Motive und des Verhaltens) und die drei Herausforderungen (Entzugs- und Reboundphänomene, erwachende Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse u. Veränderung der interpersonalen Motive und des Verhaltens).

Der Beitrag einer selbst Betroffenen dabei hat mich sehr berührt und ich habe mich oft wieder entdeckt bei ihrem Bericht und Erlebnissen auf ihrem Weg.

Bin sehr dankbar, dass ich das alles miterleben durfte und war dann abends aber echt k. o.

Liebe Grüße
escargot
viewtopic.php?p=280892#p280892

Ergänzungen von Murmeline :) :
Die Studie, von der Peter Lehmann Gesprochen hat, ist diese:
viewtopic.php?f=19&t=10301#p113756

Die Checkliste zu den Symptomen mit den 43 Kriterien gibt es seit 2008 im Forum:
viewtopic.php?p=102839#p102839


Der Vortrag von Thelke am Freitag hat mich auch sehr berührt.

Murmeline mit Grüßen
Bittchen
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Re: Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von Bittchen »

Liebe Murmeline,

heute habe ich einen Hinweis erhalten, über deinen ganz hervorragenden öffentlichen Einsatz,was das Absetzen der Psychopharmaka betrifft.
Der Hinweis kam glaube ich, bei mir in Form einer privaten Nachricht von Clarissa, lieben Dank dafür Clarissa.
Immer noch bin ich nicht fit am PC,aber ich bemühe mich und bin dankbar für jede Hilfe dabei.
Mein Mann hat sich den Radiobeitrag mit angehört und meinte nur Immer wieder:"Kennen wir doch und noch mal,so ist es ."
Was für eine böse Sache läuft da nur ab ?
Auch junge Ärzte sind immer noch nicht genug aufgeklärt ,was da durch die Macht der Pharmaindustrie läuft.
Aber so langsam sind wir immer mehr !!!
Da kann hier wirklich der Gründer dieses Forum,du liebe Murmeline und das Moderatorenteam, sehr sehr stolz drauf sein.

Alles Gute weiterhin und viel Kraft für die so wichtige Arbeit.
Liebe Grüße
Brigitte
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Vorgeschichte:
Als junge Frau hatte ich schon zwei Suizidversuche,18 u.24.Jahre,1968 verbunden mit schmerzhaften Trennungen.

1986 nach der Geburt von der dritten Tochter das erste Mal Diagnose durch Frauenarzt ,Depression.


Medikationsverlauf:


Seit Feb.1992 trockene Alkoholikerin.Halbes Jahr später depressive Phase. Hausarzt spritzt alle 4 Wochen Imap.


1994 erneut starke depressive Symptome,jüngste Tochter hatte bald Kommunion,ich wollte funktionieren.
Hausarzt verschreibt das 1.Mal Aurorix(Mao-Hemmer),hat schnell gewirkt.
Ich hatte eine kurze Hypomanie. In den langen Jahren immer Mal wieder,jetzt schon ein paar Jahre nicht mehr.
Eingenommen bis 2004,dann keine Wirkung mehr.

2004,das erste Mal Akut-Psychiatrie, umgestellt worden auf Trevilor(Venla),immer wenn Wirkung nach ließ, erhöht worden,bis 300 mg.


Dann Inkontinenz und weitere Nebenwirkungen,zu schnell ausgeschlichen.
Umgestellt auf Escitalopram,zwischendurch Citralopram,
Nach ein paar Jahren wieder abgesetzt,immer zu schnell,i

2009 erneut schwere Episode,Hausarzt verschreibt wieder Aurorix,wirkt nicht mehr.
Auch 2009,endlich Psychotherapie,
Psychiater verschreibt Sertralin 25 mg, sehr starke Nebenwirkungen,Zittern,Unruhe,Angst,Selbstmordgedanken,so dass ich erneut,während der Psychotherapie, in die Akut- Psychiatrie muss.
Entlassung mit 50 mg Sertralin. als Nebenwirkung ,starken Durchfall.


Dann ohne Ausschleichen ,Umstellung auf Citalopram 40 mg. dann umgestellt auf 20 mg Es-Citalopram,

Absetzversuche scheitern immer wieder,da erneutes Auftreten der Krankheit diagnostiziert wird.

Absetzverlauf:
Anfang 2017 : Vom neuen Hausarzt ließ ich mir dann Tropfen verschreiben und reduzierte jede Woche einen Tropfen.
Seit Mai 2017 ohne Ad.

3.12.2017 Versuch der Wiedereindosierung von 0,5 mg Escitalopram - starker Durchfall, wieder weggelassen


Seit Ewigkeiten 125 mg L-Thyroxin gegen Unterfunktion der SD.

aktuelle Symptome
Jetzt bin ich in eine, angeblich leichte, Überfunktion geraten.
Symptome sind starke Schlafstörungen,Gereiztheit,Wut ,innere Unruhe und Beben,Kribbeln in Füßen und Waden,schwitzen,sehr trockener Mund,immer Durst.
Plaque in Halsschlagader ,vorgestern beim Endokrinologen fest gestellt,auch Polyneuropathie ,wird in beiden Beinen vermutet.

Erst einmal will ich versuchen ohne erneutes PP auszukommen.
Kein PP hat mich stabilisiert ,eigentlich hatte ich immer nur Nebenwirkungen,wie Inkontinenz und Schleimhautbluten erneut auftraten,beschloss ich auszuschleichen.
Auch Sehstörungen,Magengeschwüre,mit Teerstuhl hatte ich in den letzten drei Jahren .
Clarissa
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Re: Vortrag zu virtueller Selbsthilfe und Entzugsproblematiken beim DGPPN Kongress 29.11.2018

Beitrag von Clarissa »

Huch, liebe Brigitte, ich habe mir zwar den Radiobeitrag angehört und mich dafür bedankt, aber keine PN versandt :shock: - soweit ich mich entsinne :? .

Die Öffentlichkeitsarbeit von z.B. Murmeline begrüße ich natürlich sehr!

VG von Clarissa
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