Klick auf das Kreuzchen um das hier auszublenden ->


 ! Nachricht von: Oliver

Dieses Forum ist im Ruhezustand.

Es hat sich eine neue Gemeinschaft aus Betroffenen und Angehörigen gegründet, die sich weiterhin beim risikominimierenden Absetzen von Psychopharmaka unterstützt und Informationen zusammenträgt. Die Informationen, wie ihr dort teilnehmen könnt findet ihr hier:

psyab.net: wichtige Informationen für neue Teilnehmer


Die öffentlichen Beiträge auf adfd.org bleiben erhalten.

Bereits registrierte Teilnehmer können hier noch bis Ende 2022 weiter in den privaten Foren schreiben und PNs austauschen, aber es ist kein aktiver Austausch mehr vorgesehen und es gibt keine Moderation mehr.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die über die geholfen haben, dieses Forum über 18 Jahre lang mit zu pflegen und zu gestalten.


US-Studie: Definition psych. Erkrankungen durch Industrie

Eine Sammlung von Artikeln, die über wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche Hintergründe der Behandlung von seelischen Leiden mit Psychopharmaka berichten.
Antworten
PhilRS
Beiträge: 1071
Registriert: 07.04.2005 10:16
Wohnort: FI-Joensuu / DE-Berlin
Danksagung erhalten: 48 Mal
Kontaktdaten:

US-Studie: Definition psych. Erkrankungen durch Industrie

Beitrag von PhilRS »

Dt. Ärzteblatt online hat geschrieben:Psychiatrie: Jeder zweite Autor des DSM-IV mit Interessenskonflikten (1)

Donnerstag, 20. April 2006

Boston - Mehr als die Hälfte aller Autoren des aktuellen Diagnostic and Statistical Manual (DSM-IV), des weltweit einflussreichsten Handbuchs in der Psychiatrie, hatten wirtschaftliche Interessenskonflikte mit der Pharmaindustrie. Dies ergab eine Studie in Psychotherapy and Psychosomatics (2), die in den US-Medien für große Aufregung sorgte.

Die vierte und aktuelle Version des „Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen“, so die wörtliche Übersetzung, erschien im Jahr 1994. Eine überarbeitete Version wurde 2000 publiziert. Das Werk, das von der American Psychiatric Association herausgegeben und gelegentlich auch als „Psychiatrie-Bibel” bezeichnet wird, enthält genaue Beschreibungen aller psychiatrischen Erkrankungen. Damit setzt es Normen, die darüber entscheiden, ob psychische Phänomene als krankhaft und damit behandlungsbedürftig gelten. Das ist in der Psychiatrie nicht immer unumstritten und auch einem kulturellen Wandel unterworfen.

Seit einiger Zeit mehren sich die Bedenken, das DSM-IV könnte in einer anderen Hinsicht in eine Schieflage geraten sein. Viele Definitionen von Krankheiten schienen wie geschaffen zu sein für den Einsatz bestimmter Medikamente. Ein häufig genanntes Beispiel ist die Soziophobie, also die Angst, sich in die Gesellschaft anderer Menschen zu begeben. Diese Störung kann durch Antidepressiva behandelt werden, und manche Kritiker hatten fast den Eindruck, dass alle schüchternen Menschen zu Patienten gestempelt würden, um sie zu behandeln.

Vor diesem Hintergrund sorgt die Analyse von Lisa Cosgrove, einer Psychologin der Universität von Massachusetts in Boston, für Irritationen. Die Studie war am Donnerstag noch nicht im Internet publiziert. Die US-Medien zitierten jedoch die wesentlichen Ergebnisse. Danach hatten 95 der 170 Autoren des DSM-IV in den Jahren 1989 bis 2004 finanzielle Beziehungen zur Pharmaindustrie. In einigen Bereichen wie der Behandlung von schweren mentalen Störungen sollen sogar 100 Prozent der Autoren Interessenkonflikte gehabt haben. Unklar bleibt, wie viele dieser finanziellen Beziehungen bereits vor dem Verfassen des Manuals bestanden.

Gegenüber den Medien erklärte Cosgrove, was sie zu den Recherchen bewogen habe. Ihr war die Zusammensetzung eines Panels aufgefallen, das sich mit der Frage beschäftigte, ob das prämenstruelle Syndrom eine psychiatrische Störung sei. Fünf von sechs Experten hätten finanzielle Beziehungen zu der Firma Eli Lilly gehabt, die damals genau diese Indikation für das Antidepressivum Fluoxetin (Prozac®) anstrebte.

(...)
(Hervorhebungen d.Bearb. - PhilRS.)
Anm.: 1994 wusste Eli Lilly bereits von der Abhängigkeitsentwicklung unter SSRI (3).

In der Vorgängerversion DSM-III galt die Entwicklung von Entzugserscheinungen nach Absetzen einer Substanz noch als beweisendes Kriterium für Abhängigkeit (siehe a.a.O. hier im Forum). Im DSM-IV wurde dies geändert.

-PhilRS.

<hr>
(1) Dt.Ärzteblatt ONLINE: LINK (*)

(2) Psychotherapy and Psychosomatics: Link

(3) eigene Recherche, Quellen a.A./werden nachgereicht

<hr>
* Volltext der Quelle gesichert, News des Dt.Ärzteblatts ONLINE werden nur ca. 3 Monate vorgehalten. Wenn Link tot, bitte Info an mich - zwecks Abänderung.

- Volltext aus Psychotherapy and Psychosomatics liegt vor -
PhilRS
Beiträge: 1071
Registriert: 07.04.2005 10:16
Wohnort: FI-Joensuu / DE-Berlin
Danksagung erhalten: 48 Mal
Kontaktdaten:

Details: Originalartikel aus 'Psychother Psychosom'

Beitrag von PhilRS »

Nach einer ersten Bewertung des Originalartikels war es schon angebracht, das Fragezeichen aus der Beitragsüberschrift zu entfernen.

Im Folgenden einige Details und Gedanken zum vorliegenden Volltext - was der Vorgang insgesamt bedeutet oder bedeuten kann, entzieht sich im Augenblick meiner Vorstellungskraft. Die Antworten auf die sich jetzt ergebenden Fragen wird sich jede/r ohnehin selbst geben: Deshalb sollte der Artikel auch allen zugänglich gemacht werden. Leider geht das aus Copyright-Gründen nicht (vorerst).
<hr>
zu Psychother Psychosom 2006;75:154–160:
Cosgrove L, Krimsky S, Vijayaraghavan M, Schneider L:
Financial Ties between DSM-IV Panel Members and Pharmaceutical Industry

Den Autoren war aufgefallen, dass die maßgeblichen medizinischen/psychiatrischen Journals ihren Artikelautoren inzwischen Vorgaben machen, wie Interessenkonflikte zu deklarieren sind. Nur bei der Grundlage all dessen, der US-"Psychiatrie-Bibel" DSM-IV, fehlten solche Angaben völlig.

Darum haben Cosgrove, Krimsky et al. eine ähnliche Methode entwickelt, wie ich sie für die ADFD-Liste angewendet habe, und sind inklusive Internetsuche, Kongressberichten usw. zu einem Screening-Verfahren für unerkannte finanzielle Verbindungen gekommen (einen entscheidenden Teil konnte ich seinerzeit nicht einsehen: Mangels Volltextzugriff fehlten mir die Deklarationen aus Artikeln der betreffenden Personen).

Resultate:

Es wurden 170 Personen identifiziert, die als Autoren am DSM-IV mitgewirkt haben. 95 davon (56%) hatten finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie.

Anstößiger als die bloße Zahl - und vom Ärzteblatt online im Kern verschwiegen - ist die Verteilung der Industrie-finanzierten "Experten" auf die DSM-IV-Kapitel. Wie man von profitorientierten Wirtschaftsunternehmen erwarten sollte, sind nämlich solche Leute gerade dort am Werk gewesen, wo der Einsatz von Psychopharmaka als Therapie der ersten Wahl gilt: und ohne Diagnose kommt es nun mal nicht zur Therapie.

Die Zahlen im Einzelnen:
  • Anteil der Industriefinanzierten Autoren an DSM-IV-Kapiteln
  • Mood Disorders: 100%
    - darunter Depression/Major Depressive Disorder, MDD -
  • Schizophrenia and Other Psychotic Disorders: 100%
  • Medication-induced Movement Disorders: 88%
  • Eating Disorders: 83%
  • Premenstrual Dysphoric Disorders: 83%
  • Anxiety Disorders: 81%
  • Disorders Usually First Diagnosed during Infancy, Childhood and Adolescence: 62%
    - darunter "ADHS"/ADS -
  • usw. usf.
Mit anderen Worten: z.B. die Diagnosekriterien für Depression wurden zu 100% von "Experten" verfasst, die von der Pharmaindustrie Geld erhielten - notwendigerweise von denselben Firmen, die entsprechende Antidepressiva in der Produktpalette hatten und haben.
<hr>
Sicher kennen sich auch die meisten europäischen Psychiater mit dem DSM-IV aus. Dennoch wäre die Reaktion hierzulande sicher meist diese: "Kann ja sein, aber wir richten uns doch nach ICD-10".

Dazu nimmt auch der Artikel Stellung:
  • "Outside of the United States the official coding system for mental illness is the International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10th Revision (ICD-10). According to the DSM IV-TR, the preparation of DSM-IV has been closely coordinated with the preparation of Chapter V ‘Mental and Behavioural Disorders’ of ICD-10."

    (gleiche Quelle, Fußnote S. 155)
Es gehört wenig Phantasie dazu, sich auszumalen, was mit "enger Koordination" zwischen DSM-IV und ICD-10 gemeint ist: Schließlich sind die Pharmafirmen Global Player.

Dennoch müsste man sich eine Autorenliste des ICD-10/Kapitel V beschaffen und dieselbe Methodik anwenden wie oben, um wirklich sicher zu sein. Das ist nicht einfach - es ist mir in 4 Tagen nicht gelungen. Die deutsche Druckausgabe stammt vom DIMDI und enthält keine Autorenangaben. Immerhin gibt es ein Online-Dokument der WHO mit einer "Expertenliste", die vielversprechend ist und mir als Grundlage dienen wird.

:!: Quellenhinweise auf ICD-10/Kap. V-Autoren per PN sind willkommen !
<hr>
Eine wichtige Frage bleibt weiterhin offen - die nach dem Einfluss von Pharmafirmen auf die Definition von "Abhängigkeit":
In der Vorversion DSM-III (und ICD-9?) war das Auftreten von Entzugserscheinungen hinreichend, um von Abhängigkeit zu sprechen. Die zu Beginn der 1990er Jahre mit riesigem Werbeaufwand eingeführten SSRI hätten ohne die DSM-Revision IV (1994) schon bald als Suchtmittel bezeichnet werden müssen.

In der entsprechenden Arbeitsgruppe Substance-Related Disorders waren jedoch "nur" 17% Industrie-finanzierte Experten (6 von 36). Diverse Deutungen sind möglich:
  • 1.) In diesem Gebiet gibt es nur wenige Anwendungsmöglichkeiten für Arzneimittel - nur eine Handvoll "Entwöhnungsmittel" wie Naltrexon oder Acamprosat; darum sind nur wenige Industrie-hörige Kräfte beteiligt gewesen.
  • 2.) Die Pharmaindustrie interessiert sich nicht für die Schäden, die ihre Mittel anrichten; darum ist die Anwesenheit dieser 17% ohne Aussagekraft.
  • 3.) Die 6 Industrie-nahen Experten waren maßgeblich für die Abänderung der Definition "Abhängigkeit" verantwortlich und gezielt zu diesem Zweck eingesetzt worden.
  • (weitere Varianten sind denkbar)
Die Autoren des Artikels favorisieren die Erklärung 1. Unter dem fatalen Eindruck der 100% bei Mood Disorders und weil ich während meiner Zeit bei SIEMENS Medizintechnik gesehen habe, wie genau dort intern die Schmiergelder abgerechnet wurden, tendiere ich zu Erklärung 3.

Die hier vorgelegten Daten geben leider keine zuverlässige Antwort.

-PhilRS.
PhilRS
Beiträge: 1071
Registriert: 07.04.2005 10:16
Wohnort: FI-Joensuu / DE-Berlin
Danksagung erhalten: 48 Mal
Kontaktdaten:

Weitere Hinweise

Beitrag von PhilRS »

Ein Editorial im American Journal of Psychiatry vom Mai 2006 erhellt die Vorgänge im DSM-IV-Komitee: Demnach fiel die Entscheidung für die Definition von "Abhängigkeit" im Unterschied zur differenzierten Betrachtung Sucht vs. physische Abhängigkeit mit der knappst möglichen Mehrheit von einer Stimme [1].

In einem Leserbrief dazu wurde im November 2006 dringend eine Revision der Begriffsdefinition empfohlen, mit dem Verweis auf bestehende Sprachregelungen der Amerikanischen Gesellschaft für Suchtmedizin, der Amerikanischen Schmerzgesellschaft und der Amerikanischen Akademie für Schmerzmedizin [2].

Die bessere, weil klarere Formel sei:
  • Sucht ist eine primäre, chronische, neurobiologische Krankheit, deren Entwicklung und Manifestation von genetischen, psychosozialen und Umweltfaktoren beeinflusst wird. Sie ist charakterisiert durch eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen: Kontrollverlust über den Drogengebrauch, zwanghafte Einnahme, fortgesetzte Einnahme trotz Schädigung, und zwingendes Verlangen nach der Substanz (Craving).
  • Physische Abhängigkeit ist ein Zustand der Anpassung, der sich in einem Substanzgruppenspezifischen Entzugssyndrom zeigt, das nach abruptem Absetzen, schneller Dosisverringerung, absinkendem Blutspiegel des Wirkstoffs, und/oder Verabreichung eines Antagonisten auftritt.
In the interest of patients—addicted or not—we urge that the DSM-V Committee should pursue the same degree of clarity.
Die Definition bezieht sich auf den Gebrauch von Opiaten, ließe sich aber zweifellos auch auf Antidepressiva anwenden. In [1] wird genau dieser Fall mit angeführt. Bei Berücksichtigung dieser Argumente hieße das Fazit:

Antidepressiva machen nicht süchtig, sondern physisch abhängig.

[1] http://ajp.psychiatryonline.org/doi/ful ... .163.5.764
[2] http://ajp.psychiatryonline.org/doi/pdf ... 3.11.2014a
Antworten