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Absetzsymptome und Nebenwirkungen bei SSRI [Arzneitelegramm]

Verfasst: 25.10.2003 01:18
von Linda
Arznei-Telegramm hat geschrieben: 2/98: ABHÄNGIG VON ANTIDEPRESSIVA – Parallele zur Geschichte der Benzodiazepine?

Noch aus dem Jahr 1980 datiert eine offizielle Einschätzung, die die Häufigkeit der Benzodiazepin-Abhängigkeit auf 5 bis 10 pro 1 Million Patientenmonate beziffert. Die langjährige Einnahme von Tranquilizern unter ärztlicher Verordnung und ohne nennenswerte Dosissteigerung wurde nicht als Abhängigkeitsproblem erkannt. Erst 1981 erschienen zwei kontrollierte Studien, nach denen ein beträchtlicher Anteil von Langzeitanwendern bei Absetzen mit Entzugssymptomen rechnen muss – Grund für viele, die Medikation beizubehalten. Entzugserscheinungen wie Schlafstörungen oder Angst imitieren die Beschwerden, derentwegen die Mittel ursprünglich verordnet wurden. Verwechselung mit einem Rückfall liegt nahe.
Eine ähnliche Verkennung von Abhängigkeit mit Langzeitwirksamkeit befürchtet ein britischer Arzneimittelexperte für Antidepressiva, insbesondere vom Typ der selektiven Serotonin- Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin (FLUCTIN). Häufigkeit und Intensität der Entzugssymptome nach SSRI, wie sie sich in einer Fülle von Literaturberichten dokumentieren, sind seiner Meinung nach vergleichbar mit denen unter Benzodiazepinen (vgl. a-t 12 [1994], 120). Hier wie dort sei je nach Dosis und Anwendungsdauer jeder Zweite bis Vierte betroffen. Die Zahl entsprechender Meldungen zu SSRI an das britische Committee on Safety of Medicines erreichte im März 1997 die 1000er Marke. Während Entzugsbeschwerden besonders nach Absetzen des rasch eliminierten Paroxetin (SEROXAT, TAGONIS) inzwischen allgemein anerkannt sind, kommt die Frage einer möglichen Abhängigkeit nicht in den Blick. Ihr Ausmaß lässt sich erst dann einschätzen, wenn man weiß, wie viele Patienten die Mittel absetzen wollen, aber nicht können. Systematische Untersuchungen zu Langzeitanwendern fehlen. Etwa 30% nehmen Fluoxetin und Paroxetin länger als ein halbes Jahr ein. Solange man vermeintlich ein chronisches Leiden wirksam behandelt oder Rückfällen vorbeugt, müssen diese Zahlen nicht alarmieren. In Diskussionsrunden im Internet sprechen Betroffene ihren Verdacht auf Abhängigkeit dagegen klar aus. Hinweise auf körperliche Abhängigkeit geben auch verschiedene Berichte über Entzugserscheinungen bei Neugeborenen, deren Mütter in der Schwangerschaft Fluoxetin oder Sertralin (GLADEM, ZOLOFT) eingenommen haben.
In Internetbeiträgen fällt ein weiterer in der medizinischen Literatur zu SSRI wenig beachteter Aspekt auf: die Toleranzentwicklung. Die Wirksamkeit lässt nach, was mit Dosissteigerung, Präparatewechsel („SSRI-Karussell”) oder Kombination verschiedener Wirkstoffe beantwortet wird. Während die Verordnungszahlen für Tranquilizer zurückgehen, werden Antidepressiva zunehmend häufiger verordnet – zwischen 1990 und 1995 hierzulande mit einem Zuwachs von mehr als 60%. Bilden Antidepressiva, insbesondere SSRI, ein neues Glied in der Kette ärztlich verordneter Suchtdrogen
– darunter Appetithemmer, Barbiturate und Benzodiazepine?
MEDAWAR, C.: Internat. J. Risk Saf. Med. 10 (1997), 75
DUKES, G.: Internat. J. Risk Saf. Med. 10 (1997), 67 / ati d

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12/94 (erstaunlich oder?): ENTZUGSSYNDROME NACH SEROTONIN-WIEDERAUFNAHMEHEMMERN
Ein Patient mit Schlafapnoe und Depression nimmt täglich zwei Tabletten Fluoxetin (FLUCTIN) ein. Auf einen Absetzversuch reagiert er mit Unruhe, Ängstlichkeit und Kraftlosigkeit, so daß er diesen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer erneut verwendet. Mit langsamem Ausschleichen gelingt der Verzicht auf das Antidepressivum (NETZ- WERK-Bericht 5008). Die behandelnde Psychiaterin berichtet über eine weitere Patientin, die nach Absetzen von Fluoxetin drei Tage lang kraft- und antriebslos mit Schmerzen und Schüttelfrost „wie im Koma gelegen” habe. Auch bei der 48jährigen bessern sich die Beschwerden nach erneuter Einnahme (5007). Bei einer 72jährigen bleibt unklar, ob ein schweres delirantes Syndrom durch eigenmächtiges Weglassen von Fluvoxamin (FEVARIN) hervorgerufen wurde oder ob die Patientin das Antidepressivum aufgrund einsetzender Verwirrtheit nicht weiter einnahm (1151; a-t 8 [1986], 77). Offenbar kann das Absetzen aller Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Entzugssymptome nach sich ziehen, meist Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit und Reizbarkeit. Vor Ende der Medikation soll die Dosis alle 1 vier bis fünf Tage in kleinen Schritten verringert werden.
1 Int. Drug Ther. Newsl. 29 (1994), 39

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11/96: Fluoxetin (FLUCTIN) in der Schwangerschaft
Hinweise auf schädigende Einflüsse des im Tierversuch weder teratogen noch fetotoxisch wirkenden selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers Fluoxetin (FLUCTIN) bei Einnahme in der Schwangerschaft fehlten bislang. Wie andere Antidepressiva dieser Stoffgruppe soll es wegen unzureichender Erfahrungen dennoch gemieden werden.
Eine prospektive Kohortenstudie läßt jetzt Risiken erkennen: Kinder, deren Mütter im ersten Schwangerschaftsdrittel Fluoxetin eingenommen haben, leiden mehr als doppelt so häufig an drei und mehr geringfügigen – nicht näher beschriebenen – Fehlbildungen als Kinder aus der Kontrollgruppe ohne Exposition (15,5% vs. 6,5%). Schwere Fehlbildungen und Abort kommen in beiden Gruppen gleich häufig vor. Einnahme von Fluoxetin im letzten Trimenon scheint das Risiko perinataler Komplikationen wie Atembeschwerden, Zyanose bei Nahrungsaufnahme, vermindertes Geburtsgewicht, Nervosität u.a. zu erhöhen. Die Zahl der Frühgeburten steigt auf das Vier- bis Fünffache (CHAMBERS, C. D. et al.: N. Engl. J. Med. 335 [1996], 1010). Andere Studien bestätigen diese wegen methodischer Unzulänglichkeiten angegriffene Untersuchung nicht (ROBERT, E.: N. Engl. J. Med. 335 [1996], 1056). Im Versuch an Ratten nehmen Hämatome zu, wenn die Muttertiere Fluoxetin erhalten (Pharmacol. Biochem. & Behav. 45 [1993], 959). Vorsichtshalber wird empfohlen, bei Schwangeren mit Depressionen Antidepressiva in der Reserve zu halten und vorrangig auf psychotherapeutische Begleitung zu setzen (KUMAR, C., zit. nach MAYOR, S.: Brit. Med. J. 313 [1996], 902). Dies gilt auch für trizyklische Antidepressiva, für die Einzelberichte über Fehlbildungen vorliegen und die in Dosierungen jenseits des therapeutischen Bereichs als teratogen und embryotoxisch gelten (KASTRUP, E. K. [Hrsg.]: „Facts and Comparisons”, St. Louis [USA], April 1990, Seite 262n). Bei schwerer Depression läßt sich der Gebrauch trizyklischer Antidepressiva in der Schwangerschaft jedoch oft nicht umgehen, –Red.

Zaps

Verfasst: 03.11.2004 17:56
von Oliver
( http://www.arznei-telegramm.de/zeit/0311_a.php3 ) 11/03 hat geschrieben: STROMSCHLAG-ÄHNLICHE SYMPTOME NACH ABSETZEN VON SSRI

Absetzen selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) kann mit Entzugssymptomen* wie Schwindel, Kopfschmerz, Parästhesien, Schlafstörungen oder gedrückter Stimmung u.a. einhergehen (a-t 1998; Nr. 2: 14) (1). Dies gilt auch für die Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Venlafaxin (TREVILOR) und Mirtazapin (REMERGIL) (2). Kurze Halbwertszeit und inaktive Metaboliten wie bei Paroxetin (SEROXAT u.a.) sowie lange Therapiedauer und abruptes Absetzen erhöhen das Risiko (2,3). Entzugssymptome können jedoch auch auftreten, wenn die Dosis - wie zur Vermeidung empfohlen - langsam reduziert wird (4). Sie können ein bis zwei Wochen, bisweilen Monate lang anhalten. Wiedereinnahme der ursprünglichen Dosis lindert die Beschwerden meist innerhalb eines Tages (2,4,5). Absetzversuche können aufgrund der Entzugssymptome auch gänzlich misslingen (6).

Mehrfach wird in der Literatur über Elektroschock-artige Parästhesien im Rahmen der SSRI- oder Venlafaxin-Entzugsbeschwerden berichtet. Die für Sekunden anhaltenden Blitz- oder Stromschlag-artigen Missempfindungen setzen überwiegend im Kopf- und Nackenbereich ein und können sich dann "wellenartig" auf andere Körperbereiche wie Brust, Arme und Beine ausbreiten. Bewegungen, insbesondere Kopfbewegungen, können die Symptomatik auslösen oder verstärken (3,5). Bei einer 39-jährigen Frau werden die "elektrischen" Missempfindungen durch Bewegungen so unangenehm, dass sie versucht, regungslos zu verharren (5).

Nach einer systematischen Auswertung von Patientenberichten über unerwünschte Wirkungen von Paroxetin ist das Phänomen des "elektrischen Kopfes" das häufigste und am meisten quälende und behindernde Symptom des Paroxetin-Entzugs. Das "als schwer beschreibbar" geschilderte Phänomen wäre danach eine Hauptursache für den im Zusammenhang mit Absetzen von Paroxetin häufig berichteten Schwindel (6). Bedeutung und Häufigkeit der Elektroschock-ähnlichen Symptomatik werden nach einer Analyse der Daten des britischen Spontanerfassungssystems (Yellow Card) bislang unterschätzt, weil die verwendete medizinische Terminologie zu einer Fehlcodierung führt, z.B. als Parästhesie oder Schwindel (7).

Anwender müssen vor Beginn der Einnahme über die Möglichkeit und die Art von Entzugssymptomen aufgeklärt werden, die auch dann auftreten können, wenn die Einnahme einer Tablette vergessen wird. Verkennungen oder Fehlinterpretationen der Stromschlag-artigen Beschwerden haben zu notfallmäßigen Krankenhausaufnahmen geführt oder weitreichende unnötige Untersuchungen nach sich gezogen (2,6). Vor diesem Hintergrund ist es dringend erforderlich, dass diese Missempfindungen in alle Fachinformationen von SSRI und verwandten Antidepressiva aufgenommen werden
  • Nach Absetzen von SSRI können Entzugssymptome auftreten, die das Absetzen erschweren.
  • Ein offenbar häufiges und quälendes, bislang aber unterschätztes Symptom des SSRI- und Venlafaxin (TREVILOR)-Entzugs sind Stromschlag-artige Missempfindungen.
(R = randomisierte Studie)
R1 ROSENBAUM, J.F. et al.: Biol. Psychiatry 1998; 44: 77-87
2 DITTO, K.E.: Postgrad. Med. 2003; 114: 79-84
3 COUPLAND, N.J.: Clin. Psychopharmacol. 1996; 16: 356-62
4 FROST, L. et al.: Am. J. Psychiatry 1995; 152: 810
5 REEVES, R.R.: Pharmacotherapy 2003; 23: 678-81
6 MEDAWAR, C. et al.: Int. J. Risk Safety Med. 2002: 161-9
7 MEDAWAR C., HERXHEIMER, A.: Publikation in Vorbereitung
8 WHO Expert Committee on Drug Dependence, 33. Report, World Health Organisation, Geneva 2003
http://www.who.int/medicines/library/qsm/915-en.pdf

* In einem Teil der Literatur und insbesondere in SSRI-Herstellerinformationen wird der Begriff "Entzug" vermieden und stattdessen von "Absetzsymptomen" gesprochen. Mit dieser Sprachregelung soll der Anklang an Abhängigkeit vermieden werden, die von Herstellern bislang bagatellisiert wird. Die Formulierung trägt aber nach Auffassung der WHO eher zur Verwirrung bei. Entzugssyndrom ist nach ICD 10 eines von sechs Kriterien, von denen mindestens drei für eine Abhängigkeitsdiagnose erfüllt sein müssen. Entzugssyndrom allein ist danach weder notwendig noch hinreichend für die Feststellung einer Abhängigkeit. Die WHO spricht im Zusammenhang mit SSRI weiterhin von Entzugssymptomen. Fluoxetin (FLUCTIN u.a.), Paroxetin (SEROXAT u.a.) und Sertralin (GLADEM, ZOLOFT) gehören zudem zu den 30 am häufigsten in Verbindung mit Abhängigkeit verdächtigten Arzneimitteln im Spontanerfassungssystem der WHO (8).